Querweltein Unterwegs – Mit Miss Smei-Ling in chinesischer Quarantäne

Im Zuge einer beruflichen Reise nach China musste sich der Autor, nach seiner Ankunft in Shanghai, Aufgrund der aktuellen chinesischen Bestimmung zur Covid-19 Pandemie, in eine zweiwöchige Quarantäne begeben. Diese begann am Abend des 19. August 2020 und endete am Abend des 02. September 2020.

Auf Wunsch seines Chefs schrieb er über diese ungewöhnliche (Arbeits-)Zeit und seine dabei gemachten Erfahrungen einen Artikel für die Mitarbeiterzeitschrift SMS-Aktuell, was ihm allerdings nicht wirklich gelang. Grund dafür war die überraschende Erlebnisvielfalt, die er in einem „Erklärungsversuch an seinen Chef“ zusammenfasste. Mit dessen Hilfe versucht er ihm zu erklären, warum aus dem von ihm gewünschten, kurzen Artikel eine ziemlich lange Quarantäne-Geschichte werden wird, und aus dieser wiederum ein Querweltein Unterwegs-Buch. Erscheinen soll es „irgendwann“ im laufenden Geschäftsjahr 2021.

Durch den begrenzten Platzbedarf wurde der „Erklärungsversuch“ in verkürzter Form im Buss-SMS-Canzler GmbH Mitarbeitermagazin (Ausgabe Dezember 2020) veröffentlicht. Uberschrift:

Mit Miss Smei-Ling in chinesischer Quarantäne: Ein Erklärungsversuch“.

Die ungekürzte, mit Musik untermalte und mit Fotos versehene Version des Artikels finden Sie hier:

Und hier können Sie den Artikel als PDF-Datei kostenlos downloaden:

Mit Miss Smei-Ling in chinesischer Quarantäne: Ein Erklärungsversuch

Ursprünglich sollte, auf Wunsch meines Chefs, auf dieser Seite des Mitarbeitermagazins SMS-Aktuell ein kurzer Artikel stehen, der von meiner berufsbedingten Quarantäne in China berichtet. Diese begann am Abend des 19. August 2020 und endete – auf die Minute genau, vierzehn Tage später – am Abend des 02. September 2020. Verbracht in einem Zimmer eines von der Außenwelt durch Blechzäune abgeschotteten Quarantänehotels. Während dieser Zeit war es mir und allen anderen „Gästen“ laut der das Hotel kontrollierenden chinesischen Gesundheitsbehörde untersagt, auch nur einen einzigen Schritt über die Schwelle der Zimmertür zu setzen. Der ergänzende Hinweis in der beim Einchecken in chinesischen Schriftzeichen ausgehändigten Anweisung, dass der auf die Zimmertür gerichteten Kamera kein Fehltritt entginge, hätte ebenso gut eine Zeile aus George Orwells Roman, 1984, sein können. Meine erste Erkenntnis war: Der große Bruder sah mir zu. Rund um die Uhr. Darüber hinaus blockiert er, was nicht in sein Kontrollsystem passt, beispielsweise den amerikanischen Kurznachrichtendienst WhatsApp. Das chinesische Pendant mit weltweit 1,2 Milliarden Nutzern heißt WeChat, mein virtueller Zugang sowohl zur innerchinesischen als auch zur internationalen Außenwelt. Dank der über diesen Kanal von meinem chinesischen Kontaktmann flott zurückerhaltenen Übersetzung erfuhr ich, dass es mir lediglich erlaubt war, meine Zimmertüre drei Mal täglich kurz zu öffnen: morgens, mittags, abends. Um, so die Anweisung, frühestens fünf Minuten nach dem Klopfzeichen die auf einem in Armlänge davorstehenden Beistelltisch abgestellten Mahlzeiten hereinzuholen. Somit war jegliche, durch persönlichen Kontakt ausgelöste Virusübertragung ausgeschlossen.

Zwar ist es mir irgendwie gelungen, trotz aller Einschränkungen diese Zeit einigermaßen unbeschadet zu überstehen, wohingegen ich es nicht schaffte, meinem Chef seinen Wunsch hinsichtlich eines kurzen Artikels zu erfüllen. Stattdessen wurde daraus dieser Erklärungsversuch, durch den ich ihm die Gründe aufzuzeigen versuche. Allen anderen voran möchte ich anbringen, dass, genaugenommen, auch mein Chef an meinem Scheitern beteiligt war. Paradoxerweise weil er mich bat, einen kurzen Artikel für die SMS-Aktuell zu schreiben. Was mir wiederum durch die von ihm mir zum Schreiben zur Verfügung gestellte, viel zu knapp bemessene Quarantänezeit nicht gelang. Es waren einfach viel-zu-viele Erlebnisse und Eindrücke in diesen vierzehn Tagen, die es zu verarbeiten gab. Glauben Sie mir, ich hatte wirklich Besseres zu tun, als meine ganze schöne Zeit im Sitzen und mit Schreiben zu verbringen.

Meiner heimlichen Vermutung nach bat er mich nicht nur aus beschäftigungs- und informationstechnischen Gründen einen Artikel zu schreiben, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Denn durch ihn bräuchte ich nach meiner Rückkehr aus China nicht jeder sich für meine Quarantäne-Erlebnisse interessierenden Kollegin, und nicht jedem Kollegen, die ganze Geschichte zu erzählen. Was immerhin, bezogen auf die aktuelle Mitarbeiteranzahl, 264 Erzählungen wären. Mit ein paar wenigen Ausnahmen hauptsächlich erzählt während der Arbeitszeit. Was im Empfinden meines empathischen Chefs sicherlich menschlich wäre – der persönliche Erfahrungsaustausch beruflicher Erlebnisse –, jedoch keine, sich positiv aufs Kerngeschäft der SMS auswirkende Wertschöpfung brächte. Aus dieser These schloss ich, dass sich schöpferisches Handeln nicht nur positiv in der Bilanz einer Maschinenbaufirma auswirkt. Ebenso müsse kreative Beschäftigung die Lebensqualität eines Menschen steigern, weswegen ich versuchte, meine Quarantänezeit mit dem mir zur Verfügung gestellten Raum, den darin vorgefundenen Mitteln und meinen menschlichen Möglichkeiten sinnvoll zu gestalten. Es war zwar nur eine temporäre, jedoch radikale Umstellung auf einen neuen, völlig anderen Berufsalltag auf 15 Quadratmetern. Und das weit über meine, normalerweise von Montag bis Freitag gehende, 40-stundenwöchige Arbeitszeit hinaus.

Genaugenommen hatte ich weitaus weniger Raum zur freien Verfügung. Abzüglich der Möbel, der Trennwand zum Badezimmer und dessen Ausstattung waren‘s kaum mehr als 7 Quadratmeter. Als ich nach der Ankunft in dem im Songjian District Shanghais gelegenen Quarantänehotel die Tür meines Zimmers von innen hinter mir zuzog, hätte ich gleichzeitig schreien und heulen können. Was ich, um ehrlich zu sein, auch tat. Grund war, dass ich, trotz oder gerade wegen der räumlichen Enge, den mir zur Verfügung stehenden, unendlich großen Raum in meinem Kopf für Gedanken, Ideen, Erkenntnisse und Phantasien noch nicht erkannt hatte. Um dieses Vakuum nach dem Zuziehen der Zimmertür mit Leben und Erleben zu füllen, ist insbesondere die letztgenannte Fähigkeit, die Phantasie, überlebensnotwendig. Weitaus wichtiger als Wissen! Das sage nicht ich, sondern Albert Einstein (1879–1955). Und er begründet dies damit, dass Wissen begrenzt ist. Diese Grundlagenerkenntnis führte mich zu meiner zweitwichtigsten Erkenntnis während der Quarantäne: räumliche Enge schafft Weite im Kopf. Anders ausgedrückt: die mir genommene physische Freiheit schenkte mir geistigen Freiraum. Die allerwichtigste Erkenntnis verrate ich Ihnen später.

Nach der Ankunft brauchte mein durch Schreien und Heulen verzerrter Geist eine Weile, bis sich ihm dieser grenzenlose Freiraum mit seinen schier unendlichen Möglichkeiten offenbarte. Was übrigens einer der Hauptgründe ist, warum ich es nicht hinbekam, einen kurzen Artikel zu schreiben. Zu meinem Scheitern entscheidend beigetragen hat das Internet. Anders als von Außenstehenden vorschnell vermutet, konnte ich mir die Masse an Zeit nicht, ich wiederhole: NICHT mit Surfen vertreiben. Allein das Versenden der 75 Kilobit E-Mail, mit der ich meinen Chef informieren wollte, dass ich in den kommenden zwei Wochen an keiner Videokonferenz teilnehmen kann, dauerte, zuzüglich einiger Übertragungsabbrüche und ebenso vieler Verbindungsaufbauversuche, eineinhalb Stunden. Derweil ich übrigens auch zeitweise schrie und heulte. Diese zähe, wie Lava fließende Datenübertragung war keine seltene Ausnahme. Sie war die Regel. Und der telekommunikationstechnische Grund ist leicht zu verstehen. Als einer von vielen, in einem ausgebuchten Quarantänehotel unfreiwillig einsitzenden Gästen, die allesamt kaum mehr zu tun hatten, als zu versuchen, sich die Zeit damit zu vertreiben, das Internet an die Kante zu treiben, wo ihm kein anderer Ausweg blieb, als sich aufgrund der Überlastung in die Tiefe zu stürzen.

Mit einer Mischung aus Verzweifeln und Hoffen lugte ständig eins meiner Augen auf den sich, wenn überhaupt, mit einem Zehntelmillimeter pro Minute bewegenden Übertragungsfortschrittsbalken. Nach einer nervenaufreibenden Weile fand ich heraus, dass sich ab circa halb drei nachts die Übertragungsgeschwindigkeit fast verdoppelte. Wenn auch nur langsam. Zu einer Zeit, zu der mehr und mehr Internetnutzer vor Übermüdung mit der Stirn gegen den stagnierenden Fortschrittsbalken knallten. Ich übrigens auch. Erfreulicherweise zog sich die Beule bis zum Ende der Quarantäne wieder hinter meine Stirn zurück.

In den vierzehn Tagen gelang es mir zumindest zweimal, bis halb vier in der Nacht durchzuhalten, um mir in der ZDF-Mediathek einen Krimi anzusehen. Als beim zweiten Mal, gerade als es spannend wurde, die Übertragung abbrach, gab ich aus Rücksicht auf meine blank liegenden Nerven auf. Das Positive an meinem Bruch mit dem Internet war, dass ich mir auf diesem Wege keinen Virus mehr einfangen konnte.

Ab diesem Zeitpunkt beobachtete ich mit Erschrecken, wie der Fortschrittsbalken meines SMS-Artikels mit vielfacher Internetgeschwindigkeit weit über die von meinem Chef gewünschte Länge hinausschoss. Einerseits war ich heilfroh, dass er mich gebeten hatte, mir die Zeit mit Schreiben zu vertreiben. Andererseits wusste ich nicht, wie ich es ihm erklären sollte, dass es statt eines kurzen SMS-Artikels ein recht umfangreiches Upscaling werden würde, um den vervielfachten Textumfang mit einem Begriff aus unserer Branche auszudrücken. Um genau zu sein, eine Querweltein Unterwegs-Geschichte, jedoch ohne die reisetypischen Sightseeing-Passagen. Abgesehen vom Blick aus meinem Zimmerfenster gab‘s im Außen nichts zu sehen, weswegen der Blick des Reisenden automatisch nach innen gerichtet wird. Nicht ins Zimmer. Ins eigene Innere. Hin zum Insightseeing. Hervorgerufen durch ein Naturphänomen, bei dem die plötzlich leere Außenwelt den ihr sonst vom Reisenden vorgehaltenen Spiegel einfach herumdreht. – Diese Umkehrung wird früher oder später jeder Reisende, der für seine Umwelt und sich selber gegenüber offen ist, erleben. Verbunden mit einem anfänglich unangenehmen, weil ungewohnten Gefühl: dem der intensiven, unausweichlichen Selbstbetrachtung. Laut einem Zitat des schwedischen Weltreisenden und Bestsellerautors, Per J. Anderson, „Die reinste Therapie“. Die nach einer Weile, wenn man nicht versucht den Spiegel mit aller Gewalt wieder der Welt zuzudrehen, die überraschendsten und wohl auch wertvollsten Reiseerfahrungen mit sich bringt. Die allerdings nicht als Selfie ins Fotoalbum geklebt, sondern lediglich im Herzen aufbewahrt werden können. Bislang bestand meine Arbeitsaufgabe darin, mit Hilfe meiner SMS-Kolleginnen und -Kollegen, unsere Kunden beim Mechanical-Engineering ihrer Verdampfer zu unterstützen. Während der Quarantäne hatte ich mich, mit Hilfe von Sadh Gurus Inner-Engineering, um meinen eigenen reibungslosen Lauf zu kümmern. Nun war es an der Zeit, sich der äußeren Dynamik von innen heraus zu nähern.

Zuallererst galt es, das lebensgefährliche Gefühl los zu werden, das mich seit dem Hinflug nach China quälte. Die Angst, mich in den bevorstehenden zwei Wochen zu Tode zu langweilen. Wenn mir, wie es der Volksmund prophezeit, vor lauter Langeweile die Decke auf den Kopf fällt. Was, im Gegensatz zu daheim, in einem hochhaushohen Quarantänehotel mehrfach tragisch wäre. Weil im Hotelzimmer unter mir ebenfalls jemand hockt, der sich auch zu Tode langweilt. Dem vor lauter Langeweile seine Decke auf den Kopf fällt, – wodurch mir, aus meiner Perspektive betrachtet, der Boden unter den Füßen wegbricht. Dieses Schreckensszenario, auf alle sich zu Tode langweilenden Gäste weitergesponnen, kommt einem Kompletteinsturz des Quarantänehotels sehr nahe.

Doch schon bald stellte ich mit einem Gefühl der Erleichterung fest, dass es erstaunlicherweise genügend zeitvertreibende Beschäftigungen gab. Zum einen waren es die mir von der chinesischen Gesundheitsbehörde auferlegten Anweisungen. Beispielsweise musste ich zweimal täglich meine Körpertemperatur an zwei unterschiedlichen Körperöffnungen messen und das Ergebnis über WeChat der Behörde mitteilen. Einmal am Tag musste ich sämtliche Ablageflächen mit einem nach stark gechlortem Schwimmbadwasser riechenden Desinfektionstuch abwischen. Und zum Schutze des chinesischen Volkes lag es in meiner Verantwortung, nach jedem erfolgreichen Toilettengang, laut Anweisung unbedingt vor dem Runterspülen, meine Hinterlassenschaft mit einem, mit mehreren Totenköpfen deklarierten, weißen Pulver zu bestreuen. Zwecks Abtötung möglicher, in meinem Verdauungstrakt schlummernder, auf dem Luftweg von Deutschland nach China re-importierter, auf der Quarantänetoilette ausgeschiedener und sich über das weit verzweigte Kanalnetz landesweit verbreitender, womöglich die chinesische Bevölkerung ausrottender Corona-Viren.

Wenige Sekunden nach dem Bestreuen fing es in der Toilettenschüssel ähnlich an zu brodeln, wie ich es seinerzeit in Indonesien, am Kraterrand des Mount Ijen stehend, beobachtete. Damals war’s ein beeindruckendes Naturschauspiel. In der Quarantäne waren die Auswirkungen ebenfalls unvergesslich und durch die vulkanähnliche Aktivität in meinem winzigen Badezimmer annähernd so verheerend wie der letzte Ausbruch des schwefelspeienden Vulkans.

Alle zur chemischen Reinigung notwendigen Utensilien wurden mir beim Check-In ausgehändigt. Zusammen mit zwei weißen Handtüchern und dem Hinweis, dass ich mit diesen in den kommenden zwei Wochen auskommen müsse. „Zwei für zwei?“ dachte ich mit Schrecken, in Erinnerung an meine unzähligen Hotelaufenthalte und der einschlägigen Erfahrung mit weißen Handtüchern. Insbesondere mit den kontrastreichen, ach so verräterischen Spuren, die mangels Gründlichkeit beim Duschen leicht auf den weißen Fasern zurückbleiben können, – und mit denen man sich beim nächsten Mal ungern das Gesicht abtrocknen möchte. Besonders nicht mit den selbst nach 95 Grad Kochwäsche verbliebenen Spuren vorheriger Hotelgäste. Dieses Malheur ist mir nur ein einziges Mal passiert. Einmal und nie wieder! Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls erhöhte die „Zwei Handtücher für zwei Wochen“-Anweisung meine Gründlichkeit beim Duschen ungemein. Bis in jede Ritze.

Doch ich musste nicht nur mich selber gründlich waschen. Auch meine Unterhosen, für die im Prinzip das gleiche galt wie für die Handtücher. Lediglich mit dem, das Quarantäneleben erleichternden, Unterschied, dass diese farbig sind und ich mir für gewöhnlich mit ihnen nicht das Gesicht abtrockne. Was mir bislang übrigens auch nur ein einziges Mal passiert ist. Am frühen Morgen nach einer erfolgreichen Inbetriebnahme und der anschließenden Feier. Aber egal. Ist ebenfalls eine andere Geschichte. Es gab weder einen Wäschesack für den Laundry-Service noch einen Zimmer-Service mit Staubsauger. Sogar mein Bett musste ich selber machen. An neu überziehen, nach einem nächtlichen Malheur, war nicht zu denken. Von daher war auch im Traum äußerste Vorsicht geboten. Bloß nicht von plätscherndem Wasser träumen oder gar von einem tosenden Wasserfall.

Nachdem ich die mir von der chinesischen Gesundheitsbehörde aufgetragenen Anweisungen, plus meiner täglichen Hotelzimmerarbeit, erledigt hatte, stand mir der Rest des Tages, nun ja, wenn auch nicht im reinen Wortsinn zur uneingeschränkt freien, aber immerhin zur Verfügung.

Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war, mich mit den Ellbogen auf die Zimmerfensterbank zu stützen und stundenlang hinauszusehen. Eine statische und praktisch unproduktive Beschäftigung, bei der ich, auf die Fensterbank daheim gestützt, von den eilig im Laufschritt Vorbeikommenden, erst irritiert, dann verständnislos kopfschüttelnd und schließlich im vorwurfsvollen Tonfall zu hören kriege, „Stephan! Hast du eigentlich nix besseres zu tun?!“

Wenn ich wieder daheim bin, werde ich den Vorbeieilenden durch meine „Quarantäne-aus-dem-Fensterguck-Erfahrung“ zulächeln und still hinterher denken, „Es ist das Beste was ich tun kann. Und hey, es ist mir übrigens egal, was ihr Leute darüber denkt. Im Stillen würdet ihr ‘s vielleicht auch mal gern tun, traut ‘s euch aber aus Angst vor der Denke der anderen nicht.“ Ich sag’s euch, das idyllische Dorfleben kann manchmal einfach ganz schön herrlich kompliziert sein. Ich liebe es! Beziehungsweise habe ich ‘s aus der Mitteldistanz heraus zu lieben gelernt.

Schnell zurück ans Fenster der Millionenstadt. Entgegen meiner heimischen Fensterbank lag die meines Quarantänezimmers im 26-sten Stock, weswegen ich nicht hören konnte, was die unten eilig vorbeilaufenden Leute über mich quatschen. So konnte ich mich gänzlich dem herrlichen Ausblick widmen. Ebenfalls positiv war, dass ich aus einer über die Gesamtbreite des Zimmers reichenden Fensterfront blicken konnte, die obendrein nach Süden ausgerichtet war. Ich wendete mein Gesicht der Sonne zu, wodurch die Schatten automatisch hinter mich fielen.

Die Fensterfront hatte zwar ein Schiebefenster, was sich aber, womit wir bei ihrer negativen Seite wären, leider kaum mehr als einen Spaltbreit aufschieben ließ. Selbst mit Schwung und maximaler Kraftanstrengung ging‘s nicht weiter auf. Lediglich so weit, dass ich, mit den Ohren zwischen den Rahmen von Fenster und Schiebeelement eingeklemmt, zumindest mit der Nasenspitze etwas sommerlich-frische Luft schnappen konnte. Meine eiligst durchgeführte Root Cause Analyse ergab, dass eine in den Rahmen hineingeschraubte, als Anschlag dienende Blechschraube das vollständige Aufschieben blockierte. Vermutlich, um den Worst Case Fall zu verhindern. Dass jemand, der sich von der Sonne abgewandt hat und dadurch nur die Schatten des Quarantänelebens sieht, das selbige durch einen finalen Sprung in die Tiefe vorzeitig zu beenden gedenkt. Da ich mir der verheerenden Gefahr des falschen Blickwinkels durchaus bewusst war, betrachtete ich die Tiefe aus der entgegengesetzten Richtung: von unten nach oben. Von der Straße hinauf bis zur schwindelerregenden Höhe des 26sten Stockwerkes, hinter dessen Fensterfront ich stand und von wo sich mir, von meinen Fußspitzen aus bis weit in die Ferne, ein sensationeller Ausblick bot.

2020 Ausblick Quarantäne

Auf eine belebte Straßenkreuzung, mit einem daran angrenzenden, im Feng-Shui-Stil angelegten Park; auf unzählige, an Dominosteinreihen erinnernde Appartementblocks, auf mehrere Großbaustellen und mindestens 50 Turmdrehkräne. Über all das und noch viel mehr konnte ich hinwegblicken, bis weit hinaus zum Horizont, zu der meist durch Smog und Dunst nur schemenhaft zu erkennenden Wolkenkratzerskyline Shanghais. Wie mir in den kommenden Tagen auffiel, konnte ich sogar, ohne mich vom Fenster wegzubewegen, zu einer kleinen Weltreise aufbrechen. Nachteilig an der zur Südseite gerichteten Fensterfront waren die erbarmungslos auf die Glasfläche knallenden Sommersonnenstrahlen. Sie heizten mein Zimmer, trotz der rund um die Uhr Kondenswasser schwitzenden Klimaanlage, auf eine tropische Temperatur auf, bei der sich Bananen beim Krummreifen am Wohlsten fühlen. In den vierzehn Tagen sollte das Zimmerthermometer selbst nachts nicht unter 26 Grad Celsius fallen. Andererseits war ich der permanenten Sonneneinstrahlung sehr dankbar. Durch sie entdeckte ich, welches Erlebnispotential und welch‘ immense Vielfalt in zwei unscheinbar leblos-schlaff in beiden Fensterecken hängenden Vorhängen steckt.

Doch die wirklich große Galashow begann mit dem Einsetzen der Dämmerung. Völlig anders als im normalen Alltag, wo das Betätigen des Lichtschalters – Zack! – die Dunkelheit erhellt und kurz vor dem Zubettgehen ebenso schnell – Zack! – stockdunkle Nacht werden lässt. Die Quarantäne schenkte mir die notwendige Zeit und Ruhe, eine Dämmerung in ihrer gesamten Phase, die erstaunlich lange dauert, mit all den mit ihr einhergehenden Licht- und Stimmungsveränderungen zu erleben. Dies schafft man, wenn überhaupt, nur im Jahresurlaub. Mir hingegen wurde der Luxus dieser Naturschauspiel-Beobachtung von meinem Chef geschenkt. Genaugenommen bezahlte er mich tagsüber dafür, dass ich mir diese Show allabendlich ansehen durfte. Wofür ich mich an dieser Stelle mit einem kräftigen Applaus herzlich bei ihm bedanke.

Vorhang auf!

Dann, wenn der Tag der sich heranschleichenden Nacht fast unmerklich weicht. Wenn aus ihr heraus die ersten Lichter schwach hervortreten, allmählich mehr werdend. Bis immer weiter in der Ferne zu sehen. Heller und intensiver und kontrastreicher. Bis schließlich am Horizont die Skyline von Shanghai im Lichtermeer hell erstrahlt. Derart intensiv, als sei der Sternenhimmel auf die Millionenstadt gefallen. Ein fantastischer Anblick! Was mich, bis dato staunend stumm beobachtend, zum Galashowfinale, zum Singen verführte. Zu jenem erstmals von Michael Holm im Jahre 1974 gesungenen Volkslied, dass vortrefflich, wenn auch schnulzig, die Stimmung eines solchen Lichterglanzanblickes musisch beschreibt. Mit all den dabei aufkommenden Gefühlen. Und dem mit ihm einhergehenden Trugschluss.

„Die große Stadt, lockt mit ihrem Glanz,
mit schönen Frauen, mit Musik und Taaanz
doch der Schein hält nicht, was er dir verspricht …“

Youtube Video: Michael Holm – Traenen luegen nicht

Da ich nicht nur durch das Singen und das Hören des Liedtextes, sondern auch aus eigenen Beobachtungen und Erfahrungen wusste, dass der Lichterschein trügt und nicht das hält, was er mir zu versprechen scheint, war ich keineswegs traurig, mich seiner Verlockung nicht hingeben zu können. Was übrigens der kleine aber lebensentscheidende Unterschied zwischen mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen durchs Leben gehenden Menschen und fliegenden Insekten ist. Letztgenannte begreifen den Gesamtzusammenhang und die Konsequenz ihres Tuns nicht und fliegen, Nacht für Nacht, mit ihren Köpfchen voran, immer und immer wieder, gegen den verlockenden Schein an … um weit vor dem Ende der künstlich beschienenen Nacht millionenfach zu krepieren.

Insofern war ich überglücklich, dass die zu mir scheinenden Lichter in Kombination mit der heilenden Kraft des Singens mein Gemüt zu erhellen vermochten. Überdies war ich dankbar für diese Fensterfront, wenn sie auch nur einen Briefkastenschlitz breit zu öffnen war. Sie war in so manch dunkler Stunde mein „Fenster der Hoffnung“. Beispielsweise dann, wenn sich die Dunkelheit in fünfzig verschiedenen Graustufen in meinen schwächelnden Geist einzuschleichen und dort Unheil anzurichten versuchte. Ausführlich in Romanform beschrieben von der britischen Schriftstellerin E.L. James. In ihrer, mit über 125 Millionen verkauften Exemplaren weltweit erfolgreichen Erotiktrilogie „Fifty Shades of Grey“. Die, so hab‘ ich aus zuverlässiger Quelle erfahren, auch von so mancher in augenscheinlich ach so überglücklichen Familienverhältnissen lebenden Dame heimlich gelesen und zumindest gedanklich sehnsüchtig ausgelebt wird. Mein wirksames Gegenmittel gegen dieses geheime Verlangen in Zeiten der Einsamkeit war hoffnungsvoller Gesang. Aus dem „Fenster der Hoffnung“ blickend besungen von Oleta Adams, die mit ihrer überwältigenden Stimme für erholsame Nachtruhe sorgte.

„In the darkness of your private room“
[…]

“The window of Hooope,
shining the light on every problem.”

Youtube Video: Oleta Adams – Window of Hope

Das eins meiner Probleme bereits am anderen Tag gelöst werden sollte – die brennende Sehnsucht nach Zweisamkeit – hätte ich mir während der Quarantäne nie-niemals erträumt. Selbst dann nicht, als ich zu später Nachtstunde hoffnungsvoll an der Fensterfront stehend meine heimliche Sehnsucht mit dem Strahl meiner Reisetaschenlampe in den Nachthimmel schrieb. Inspiriert von einem die Liebe bekundenden Lied, dass 1982 mit Markus und der Neuen-Deutschen-Welle über mich und mein Heimatland hereinbrach.

„Kleine Taschenlampe brenn,
schreib ich lieb dich in den Himmel …“

Doch nicht aus dem von meinem Taschenlampenlicht anvisierten Fenster des gegenüberliegenden Appartementblocks kam am darauffolgenden Morgen die Lösung meiner heimlichen Sehnsucht. Stattdessen trug ich sie selber, wenn auch unbewusst, über die Türschwelle in mein Zimmer hinein. Und das obschon, wie bereits erwähnt, das Überschreiten der selbigen, von innen wie von außen, quarantänegesetzlich streng verboten war. Trotz Kameraüberwachung schaffte sie es, sich mit dem Frühstück hineinzuschleichen. Zum goldrichtigen Zeitpunkt, zu dem ich kurz davor war, Selbstgespräche zu führen. Durch sie konnte ich endlich wieder zwischenmenschliche Interaktionen betreiben. Wenn auch nicht B-to-B, zumindest aber Face to Face. Es brauchte eine Weile, bis sie, anfänglich sehr schüchtern, mir ihren, wie ein asiatisch-exotisches, immer fröhliches Gedicht klingenden, Namen verriet: Miss Smei-Ling. Gegenüber der chinesischen Gesundheitsbehörde war sie mein großes, wohlbehütetes Geheimnis. Hingegen in der richtigen Geschichte tabulos und in allen Graustufen ausführlich erzählt, wofür in einem kurzen Artikel nun wirklich nicht genügend Platz ist.

2020 Hotelzimmer Quarantäne2020 Smei-ling Day

   Nachdem mein Zweisamkeitsbedürfnis, wenn auch nicht gänzlich befriedigt, so zumindest doch einigermaßen beglückt war, erkannte ich den enormen Mehrwert, mich Beschäftigungen zuwenden zu können, die scheinbar unwichtig sind oder gar mit einem vorschnell verurteilenden Kopfschütteln als kindisch abgetan werden. Ich konnte mich mit Dingen beschäftigen, wofür einem im normalen Berufsalltagsleben kein Chef der Welt die Zeit schenken würde. Selber erscheint einem die Zeit nach Feierabend viel zu kostbar für solchen Blödsinn oder man macht‘s schlicht nicht, weil man sich zu erwachsen dafür fühlt. So nach dem ähnlichen Motto, das auch für den Fensterbank-Fall gilt, „Was sollen denn die anderen bloß von mir denken?!“ Da ich mich weit ab der Heimat in Quarantäne befand, mich niemand sah und deswegen auch niemand von mir denken konnte, was ich nicht wollte, probierte ich frohgemut all das aus, was mir in den Sinn kam. Und wenn’s mal wirklich peinlich geworden wäre, hätte ich’s ja keinem zu erzählen brauchen. Geschweige denn, in der SMS-Aktuell zu publizieren.

   So beherzigte ich beispielsweise den gesundheitlich gut gemeinten, aber ziemlich albern klingenden, wohl deswegen auch von mir seit Jahren ignorierten Rat von unserer SMS-Betriebsärztin. Ausgehend von der Tatsache, sowohl im Büro als auch in der Quarantäne viele Stunden am Tag sitzend zu verbringen. Nun endlich tat ich, wie mir von Frau Doktor geraten: „Stehen Sie auf und schütteln Sie sich, wie ein vom Wind geschütteltes Bäumchen“.

   Wenn ich dies im Dürener Büro neben meinem Schreibtisch tun würde, käme wenige Minuten später mit Blaulicht und Tatü-Tata der Rettungswagen auf den Hof gesaust. Wahrscheinlich würde man mich sogar einweisen. Von meinen besorgten Kollegen dem Notarzt gegenüber damit begründet, dass ich mich beim Schütteln nicht, wie von ihnen bei anderen Arbeiten gewohnt, wie ein Prinz in einem Monteursmärchen verhielt. Diesmal kam ich mir vor wie in einem Märchen der Gebrüder Grimm. Ich fühlte mich wie Aschenputtel im SMS-Shirt. Grund der Veränderung war wieder einmal meine kindliche Neugierde, die unbedingt ausprobieren wollte, ob’s auch im wirklichen Leben funktioniert. Und weil mich in den vier Wänden meines Quarantänezimmers eh niemand sehen und hören konnte, sprach ich mit unschuldiger, mädchenhaft nachempfundener Stimme, „Bäumchen rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich.“

   Das Ergebnis war unglaublich! Um nicht zu sagen, märchenhaft! Doch weil ich nicht wusste, ob ich den im fernen Ausland durch einen Edelmetallregen gemachten Gewinn in Deutschland versteuern müsste, behalte ich das Ende dieses „Er war einmal in chinesischer Quarantäne“-Märchens für mich. „Und wenn er nicht an Corona gestorben ist, dann …“. Nur so viel sei verraten: nachdem ich mich ordentlich durchgeschüttelt hatte, stand ich eine ganze Weile still und stumm da. Die plötzliche Windstille genießend. Derweil in mich hineinfühlend und der Stimme meines Körperempfindens lauschend, die da sagte, dass es ihr, beziehungsweise mir, wirklich sehr gutgetan hatte. Ganzkörperlich. Im Körper und im Kopf. Ich fühlte mich lockerleicht und wieder zurechtgerückt. Fit für die nächste Stunde im Sitzen. Von da an schüttelte ich mich regelmäßig, mehrmals täglich. Manchmal stürmte der Wind gar derart wild durch mein dürres Geäst, dass ich arge Befürchtung hatte, das allmählich faltig werdende Obst würde frühzeitig vom Baum fallen. Derweil überlegte ich, ob dies im Gesundheitssinne unserer Betriebsärztin wäre und ob das von einer Henne täglich gelegte Produkt unter den Begriff „Fallobst“ fällt.

   Trotz der räumlichen Enge war vor dem Fußende meines Bettes immerhin so viel Platz, dass ich dort meine Yoga-Matte ausrollen konnte. Alternativ konnte ich auf der Stelle hüpfen, vor- und rückwärts Purzelbäume schlagen und sogar mit mir alleine tanzen. Sowohl auseinander, als auch klassischen Foxtrott und Walzer. Drehungen funktionierten allerdings nur, durch die Zimmerwand bedingt, mit rechtwinklig angewinkeltem Unterarm, was, mich selber beim Tanzen im Spiegel betrachtend, ziemlich bescheuert aussah. Meinen Gleichgewichtssinn trainierte ich ebenfalls. Blieb so lange auf einem Bein stehen, bis ich umkippte. Was ganz schön lange dauerte. Außer beim Zähneputzen und während stundenlanger Aufheizphasen im Zuge der Inbetriebnahme eines Verdampfers, habe ich im normalen Berufsalltagsleben keine Zeit dafür. Vor lauter anderer, mir durch den Kopf gehender Kleinigkeiten, die ebenfalls in Balance gehalten werden wollen.

   Vor dem Bett konnte ich Liegestütz und Kniebeugen machen und mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel Schattenboxen üben. Derselbe Spiegel erwies sich ebenfalls als nützlich, um meine Schnelligkeit zu trainieren. Um meine gesamte Körperlänge als Spiegelbild sehen zu können, stellte ich mich – aufgrund des überm Schreibtisch hängenden Spiegels – aufs Bett. Leicht breitbeinig. Bedingt durch die Federkernmatratze nur relativ standfest. Statt wie gewöhnlich ein Zollstock, steckte in der Seitentasche meiner Arbeitshose eine vom Mittagessen abgezwackte Banane, die ich dann, auf dem Bett vor dem Spiegel stehend, auf mein eigenes Kommando – Zieh! – so schnell wie möglich zog. Mein hochgestecktes Ziel war, schneller zu ziehen als mein Schatten. Es sei bereits verraten, dass es mir trotz täglichem Schusstraining bis zum Ende der Quarantäne nicht gelingen sollte. Lucky Luke war und bleibt der Schnellste im Wilden Westen. Ungeschlagen vom Herausforderer im Fernen Osten.

   Prinzipiell hatte ich immer was zu tun. Und wenn ich keine Lust mehr hatte, tat ich auch mal gar nichts. Was ich übrigens auch üben musste. Den plötzlich aufpoppenden „Ich-muss-jetzt-was-tun“-Impuls bemerken. Ihm wiederstehen. Still und bewegungslos bleiben. – Aushalten üben.

   Leider waren die beiden Wochenenden nicht quarantänefrei. Und weil mir mein netter Chef auch diese Zeit bezahlte, war sie strenggenommen auch nicht arbeitsfrei. Da es aber nicht wirklich was zu Arbeiten gab, empfand ich sie als willkommene Freizeit und veranstaltete eine Hotelzimmerolympiade. Ausgetragen unter dem leicht abgewandelten Motto der 2008 in Beijing stattgefundenen chinesischen Sommerolympiade: „One Man, One Dream“. Im Gegensatz zu dieser gab‘s bei meiner in Shanghai nur eine einzige, mit kaum 7 Quadratmeter Freifläche winzig kleine Wettkampfstätte, in der noch nicht mal eine Tischtennisplatte hätte aufgestellt werden können. Und dennoch wurden auf ihr sage und schreibe 16 Disziplinen ausgetragen. Bungee-Jumping musste kurzfristig abgesagt werden, weil noch nicht einmal mein Kopf, geschweige denn mein ganzer Körper, durch den Schlitz der Schiebefenster passte. Wenn’s mir doch irgendwie gelungen wäre, hätte ich zwar heimlich runterspringen können, wäre aber wohl kaum an den Überwachungskameras der chinesischen Gesundheitsbehörde vorbei unentdeckt zurück in mein Olympiastadion gekommen. Doch am allermeisten bedauerte ich, dass die Wettkämpfe nicht unter dem olympischen Geist „Dabeisein ist alles“ ausgetragen werden konnten. Mehr noch: Seit sie zum ersten Mal im Jahre 776 vor Christus in Olympia auf der griechischen Halbinsel Peloponnes stattfanden, waren es die wohl langweiligsten Spiele aller olympischen Zeiten. Ich war der einzige Athlet. Sowohl mein eigener Maßstab, als auch mein eigener Gegner. Demzufolge der stand der Goldmedaillen-Gewinner in allen Disziplinen bereits bei der Eröffnungsfeier fest. Tragischer Weise brach er bei der Abschlussfeier unter der Last der ihm selber um den Hals gehangenen Goldmedaillen zusammen. Dennoch waren‘s unvergesslich schöne Quarantänespiele. Und der einzigen, immerfort fröhlich lächelnden Zuschauerin schien es auch gefallen zu haben.

   Im Gegensatz zur Beteiligung an meiner Einmann-Olympiade, war die Anzahl der an meiner Geschichte Mitwirkenden überwältigend. Um nicht zu sagen, phänomenal. Umso phänomenaler, wenn man bedenkt, dass ich faktisch von der Außenwelt isoliert war. Demzufolge ist meine Begeisterung leicht nachvollziehbar, als mir auffiel, dass sich mehr und mehr hilfsbereite Menschen an meiner, sich in sämtlichen Richtungen ausdehnenden Quarantänegeschichte, beteiligten. Tolle Typen und Typinnen aus unterschiedlichen Bereichen des Berufs- und Alltagslebens. Sowohl noch Lebende als auch der Geist bereits Verstorbener. Prominente und öffentlich Unbekannte. Eine international kunterbunt-spannende Mischung aus Schauspielern und Chemikern, Fußballspielern und Virologen, Kolleginnen und Kollegen. Models, Musiker, Märchenerzähler und Mystiker, auch Staatsoberhäupter und Herzöge, sogar europäische Könige und chinesische Kaiser beteiligten sich.

   Die Namensliste ist lang. Viel zu lang, um sie alle hier namentlich zu nennen. Nur ein paar Beispiele. Beginnend bei A wie Archimedes, Franz von Assisi und der römischen Kaiserin und Stadtgründerin von Köln Miss Agrippina. Weiter geht’s mit Robinson Crusoe, Karel Gott und dem Lieben Gott, Phileas Fogg, Dimitri Mendelejews, Dustin Hoffmann, Wilhelm Hauff und seinem Kohlenmunk-Peter. Es beteiligten sich Konfuzius und Charlie Chaplin, wobei eine kurze Hintergrundgeschichte erzählt, was mein alter, weiser, bei der Arbeit am SMS-Prüfstand stets mechanisch-philosophisch agierender Kollege Dr.-Prof. W. Kosak – der übrigens der einzige in der akademischen Welt ist, bei dem der Doktor vor dem Professor steht! – mit diesen beiden Herren verbindet. Bruce Lee machte ebenso mit, wie der österreichische Herzog Ludwig Salvator, der Viruswissenschaftler Xing-Yi Ge, die frauengeschichtsgeplagte Golflegende Tiger Woods, der Apachen-Häuptling Winnetou und logischerweise auch sein Blutsbruder Old Shatterhand. Am Ende des Who is Who Alphabets angekommen, bei den Buchstaben X, Y, und Z, beteiligten sich der chinesische Präsident Xi Jinping, der erste Kaiser der Ming-Dynastie Zhu Yuanzhang, und Yuan Zhiming, der Direktor des Wuhaner-P4-Hochsicherheitslabors, aus dem sich das Covid-19 Virus Ende 2019 zufällig herausgeschlichen haben soll.

   Dieser, die Welt verändernde „Zwischenfall“ war wiederum die Grundlage für meine, mir in einem nächtlichen Fieberalptraum selbst zusammengesponnene Verschwörungstheorie. Kombiniert mit dem Hollywoodstreifen Outbreak. Sein Regisseur, Wolfgang Petersen, so glaubte ich zu erkennen, führte uns bereits 1995 auf der Kinoleinwand vor Augen, was der Menschheit fünfundzwanzig Jahre später im wahren Leben widerfahren würde. Unter höchster Geheimhaltung staatsmilitärisch geplant und in letzter Konsequenz durch den gezielten Abwurf einer Aerosolbombe durchgesetzt. Seinerzeit im Kino abgeworfen auf das Labor. Auf die an einem die Pläne des staatlichen Militärs zunichtemachenden Gegenmittel forschenden Ärzte und dem für den Forschungserfolg unerlässlichen Wirt, einem Affen. Heutzutage, in der Realität abgeworfen auf das Covid-19 verseuchte Quarantänehotel am Stadtrand Shanghais. Booom!

   Die Parallelen waren eindeutig! – Oder war’s doch nur ein Monteursmärchen aus tausendundeiner Alptraumnacht? Ein Ausbruch hitziger Gedanken. Ein brandgefährlicher Eruptionsmix aus Fakten und Fantasie. Paradoxerweise im vollen Bewusstsein der Ironie meines Schicksals. Dank des musikalischen Hinweises von Andreas Bourani: Dass sich alles nur in meinem Kopf abspielte.

„Ich kann in 3 Sekunden die Welt erobern,
den Himmel stürmen und in mir wohnen.
In 2 Sekunden Frieden stiften,
Liebe machen, den Feind vergiften.
In ‘ner Sekunde Schlösser bauen,
2 Tage einzieh’n und alles kaputt hau’n.
Alles Geld der Welt verbrenn’ und heut’ die Zukunft kenn’.
Und das ist alles nur in meinem Kopf …“

Youtube Video: Andreas Bourani – Nur in meinem Kopf

   Obschon ich mir der zerstörerischen Macht chaotischer Gedanken bewusst war, so wollte ich diesmal gar nicht durch den Fokus auf meine Atmung verhindern, dass während der Quarantäne viele neue Eindrücke auf mich einprasselten. Diesmal wollte ich es so richtig auf mich einprasseln lassen! Doch da ich nicht aus dem Zimmer kam, war’s im doppelten Sinne Reizüberflutung auf engstem Raum, die eine über meinen kleinen Kopf hereinbrechende Buchstabenlawine auslöste. Unaufhaltbar. Ununterdrückbar. Nur transferierbar. Physikalisch ausgedrückt durch das leicht abgewandelte Energieerhaltungsgesetzt: „Buchstaben können weder erzeugt noch zerstört, sondern nur in eine andere Buchstabenreihenfolge umgewandelt werden.“ Ergo: „Vom ursprünglich kurzen Artikel, über diesen Erklärungsversuch an meinen Chef bis hin zu einer langen Querweltein Unterwegs-Geschichte.“

   Für die erste Etappe dieses Transferierungsprozesses brauchte es Zeit. Vorangegangen war die Erkenntnis, dass es viel-zu-viele in Buchstabenform daherkommende Eindrücke waren, um sie in einen Artikel zu pressen. Der Versuch wäre fatal! Mich vor den Folgen schützend durch das TAG-Heuer Motto: „Don’t crack under pressure!“ Von Werbestrategen clever abgekupfert von den unter Dampfhochdruck arbeitenden Verdampfern der Buss-SMS-Canzler GmbH. Mit ihnen zum Vorbild nahm ich mir vor, zukünftig nicht immer alles zu glauben, was ich denke. Beziehungsweise, mehr acht zu geben, dass nicht jeder daherkommende Buchstabe gleich eine alles mit ins Tal reißende Wortlawine auslöst. Andererseits, und das war in meiner Isolation das Entscheidende, half mir die Summe an zurechtgerückten Sätzen, Gedanken, Fakten und Fiktionen, und dies in Verbindung mit all den tollen Menschen, mir meine Zeit doch recht sinnvoll zu vertreiben.

   Apropos TAG-Heuer und der seit 1880 vom Schweizer Traditionsunternehmen gemessenen Zeit. Diese fühlte sich in der Quarantäne irgendwie merkwürdig anders an. Anfänglich verbunden mit einem sich unfair anfühlenden Zeitgefühl: Ein zweiwöchiger Traumurlaub schien gefühlt doppelt so schnell zu vergehen, wie meine vierzehntägige Quarantäne. Und das obschon ich ganz genau weiß, dass beides exakt gleich lange dauert. Sogar auf die Sekunde genau. Doch mit den vergehenden Tagen, den erstaunlich vielen Beschäftigungsmöglichkeiten und all den an meinem temporären Schicksal anteilnehmenden Menschen wurde die Zeit plötzlich knapp. Das Verrückteste war: Je knapper die Zeit wurde, umso mehr Neues entdeckte ich, probierte ich aus und schrieb ich, und umso schneller verging wiederum die Zeit. Manno! Die letzten Quarantänetage verflogen gar so schnell, wie die Zeit über den Wolken auf dem Hinflug nach China. Mehr als dreißig Jahre sind vergangen seit ich Momo, den Roman von Michael Ende (1929–1995) las; das Angstgefühl der gleichnamigen Protagonistin zu verstehen glaubte. Doch nun, in Quarantäne, konnte ich die Angst des lockenköpfigen Mädchens vor den Räubern der Zeit am eigenen Leibe nachempfinden. Durch Momo inspiriert, sagte auch ich den Zeiträubern den Kampf an. Zwar konnte ich die mir zur Verfügung stehende Zeit nicht verlängern, zumindest konnte ich aber versuchen, sie laut einer These von Roger Willemsen (1955–2016) zu „verdichten“.

   Trotz dieses Verdichtungsversuches möchte ich meinem Chef gegenüber als Entschuldigung anbringen, dass dieser namenslose Zeitdieb und jeder an dieser Geschichte mitwirkende Mensch ein kleinwenig Mitschuld an meinem Versagen trägt: Dass ich den gewünschten Artikel nicht hinbekam. Strenggenommen trägt ebenfalls die vom chinesischen Staatsapparat verursachte Behinderung meiner Recherche ihren Teil dazu bei: Durch die staatlich blockierten Internetplattformen von Google und Wikipedia und die Erklärvideos auf Youtube war die Recherche zwar nicht unmöglich, aber weitaus umständlicher als in einem weniger informationskontrollierten Land und deswegen ein zeitaufwendiger Räuber. So musste ich die von mir in verschlüsselten E-Mails angeforderten Informationen über den datengeschützten VPN-Tunnel ans Dürener SMS-Büro leiten. Dort wurden sie von meiner lieben, aus Sicherheitsgründen hier namentlich nicht benannten Kollegin bearbeitet, die in Geheimsachen ebenso geschickt agiert, wie die in den Niederlanden geborene, seinerzeit in Indonesien als Tänzerin und Mätresse verdeckt operierende Spionin Mata Hari (1876–1917). Unter Umgehung der Zensur gelangten so die Informationen an der chinesischen Staatssicherheit vorbei auf den Laptop in meinem Quarantänezimmer. Ätsch-Bätsch!

   So sehr ich mich über die Einschränkungen und die Anweisungen der Gesundheitsbehörde ärgerte, so war mir ebenfalls klar, dass ich nicht wirklich was gegen sie ausrichten konnte. Eines nicht so schönen Quarantänetages, als ich mich einmal mehr über die Einschränkungen ärgerte, hörte ich aus meinem Ärger heraus den deutschen Satiriker, Kurt Tucholsky (1890–1935), zu mir sprechen.

   „Stephan, das Ärgerliche am Ärger ist, dass du dir schadest ohne anderen zu nützen.“ Ich brauchte ein Weilchen, um den qualitativen Lebenswert seiner Worte zu kapieren. Nach einer rasch durchgeführten Cause and Effekt Analyse ergab sich nur eine einzige effektive Möglichkeit, die Schwierigkeiten meines Quarantänelebens zu meistern: Auf typisch rheinländische Art. Ähnlich, wie ich’s auch im Umgang mit schwierigen Arbeitssituationen zu tun pflege. Indem ich die sich negativ auf mein eigentlich fröhliches Gemüt auswirkenden chinesischen Quarantänegesetze mit Hilfe des Kölner Grundgesetztes neutralisierte. Allen insgesamt elf Gesetzen voran, mit den ersten beiden.

„Et es wie et es – Sieh‘ den Tatsachen ins Auge.“
„Et hät noch emme jot jejange – Letztendlich wird alles gut.“

   Das konsequente Beherzigen der, übrigens vom internationalen Gerichtshof in Den Haag anerkannten, im juristischen Jargon sogenannten, „The Cologne Constitution“, zeigte eine ähnlich erfolgreiche Wirkung, wie Chemiker sie bei der Neutralisation eines unausgewogenen Säure-Base-Verhältnisses erzielen. Mein stimmungsneutralisierender Kölner Humor half hervorragend gegen die ätzenden chinesischen Gesetze. Von da an hatte ich, statt mich zu ärgern, eine Menge Spaß!

   Ein humorvoller Oberschenkelklopfer, der zur Abendessenszeit immer gut ankam, war meine Antwort auf die mich über WeChat erreichende, aus Deutschland zur Mittagszeit gesendete Frage, ob ich auch essenstechnisch gut versorgt bin.

   „Hallo Stephan, wie geht’s? Hast du schon zu Abend gegessen?“
   „Ja, Danke der Nachfrage! Ich hab‘ mir was beim Chinesen bestellt.“

   Oder der hier. Herrlich! Geschrieben von einer entfernten Bekannten, die sich aber regelmäßig nach mir und meinem aktuellen Standort erkundigt. In dem Fall über WeChat.
   „Hi Stephan, wo biste grad‘?“

   Ihre wirklich nett gemeinte Nachfrage erreichte mich, sagen wir‘s so, nicht gerade zu einem optimalen Zeitpunkt. Am Morgen meiner ersten, ziemlich schlaflosen Quarantänenacht, an dem ich, noch bevor ich mit beiden Füßen neben dem Bett stand, spürte, dass sich die der neuen Situation geschuldete Angespanntheit über Nacht nicht gelockert hatte. Ich steckte mitten in einer emotionsturbulenten Phase. Zwischen ankommen und aus-dem-Fenster- springen. Zwischen akzeptieren, ausprobieren und aushalten. Oder alternativ zwei Wochen im Bett bleiben, die Decke über den Kopf ziehen und im Wechsel heulen und schreien. Kurzum, ich war in einer, wohl jedem Reisenden recht bekannt vorkommenden, situationsbedingt mehr oder minder heftig treffenden Eingewöhnungsphase, auf die man weit entfernte Außenstehende am besten kurz und knapp, aber immer freundlich hinweist. So formulierte ich auch die Antwort an meine Bekannten auf ihre Frage.

   „Hi Stephan, wo biste grad‘?“
   „In der Bredouille.“
   Ihre Antwort kam prompt.
   „Ach wie schön! In Südfrankreich!“

   Ihrem immer fröhlich-herzlichen Naturell nach wusste ich, dass sie, kurz bevor sie auf Senden drückte, vor Entzückung in die Hände klatschte, wobei ihre schönen großen blauen Augen vor Mitfreude an meinem Glück, den Sommer in Südfrankreich verbringen zu dürfen, strahlten. Wodurch sie mir wiederum, noch bevor ich aufgestanden war, ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Mir ging’s gleich ein wenig besser. Den positiven Schwung ausnutzend, schwang ich meine Beine aus dem Bett, hieß diesen Quarantänetag als ein neues, einmaliges, unwiederbringliches Abenteuer mit einem „Sonnengruß“ willkommen und ging ihn mit Kölner Heiterkeit an. Zum Dank würde ich meiner Bekannten vom nächsten beruflichen Südfrankreicheinsatz, aus dem mittelalterlich-malerischen Aix-en-Provence, eine Urlaubskarte schreiben. „Mit lieben Grüßen aus der Bredouille!“

   Im normalen Berufsalltag geht’s mir immer dann besonders gut, wenn mir mein Chef ein neues Reiseziel in Aussicht stellt. Im selben Augenblick bin ich vor lauter Vorfreude ähnlich aus dem Häuschen, wie eine Schnecke im Hochsommer. Ein ebensolches Hochgefühl überkam mich, als mir die chinesische Gesundheitsbehörde eine Zeitreise in die Ming-Dynastie in Aussicht stellte. Um ehrlich zu sein war‘s die Androhung einer Strafversetzung wegen mutmaßlicher Missachtung einer strikten Anweisung. Weil für die ganze Geschichte hier kein Platz ist, nur so viel. Die Zeitreise sollte von meinem Quarantänezimmer aus losgehen. Ohne Zwischenstopp – Schwuppdiwupp – hinein ins 16. Jahrhundert! Ohne Reiseantrag. Ohne Visum. Ohne Flugticket. Ich bräuchte vor Reiseantritt weder eine Sicherheitsschulung zu machen, noch müsste ich nach der Ankunft unter kritischer Betrachtung der Umstände vor Ort eine Last Minute Risk Analyse ausfüllen. Eine sich simpel anhörende, risikolose, aus mehrfacher Hinsicht überaus reizvolle Reiseversuchung. Obendrein hin zu einem für Normalreisende nicht zu erreichenden Land vor unserer Zeit. Bevor ich, nein, nicht die Zeit, sondern das Thema wechsele, sei so viel noch verraten. Trotz aller Verlockungen trat ich diese Zeitreise aus Loyalität zu meinem Chef nicht an. Weil die chinesische Gesundheitsbehörde mir nicht versprechen wollte, dass ich am Ende meiner regulären Quarantänezeit wieder zurück im Hier und Jetzt sein würde. Eine Verspätung hätte meinen Chef doch sehr verärgert. Schließlich wartete sein Kunde nicht im China der kaiserlichen Ming-Zeit auf mich, sondern in einem Klärwerk im Shanghai des 21. Jahrhunderts.

   Anders als in meinen mit stahlharten Fakten vollgepackten, keinen Zehntelmillimeter von der Praxis abweichenden Montageberichten, schweifte mein Schreibstil in der Quarantänegeschichte toleranz- und grenzenlos ab. Verantwortlich für diese Abschweifungen ist einerseits meine nach Feierabend, bis auf wenige Ausnahmen niemals während der Arbeitszeit, unkontrollierbar abschweifende Phantasie. Andererseits wählte ich dieses, beim Schreiben effektiver als beim Schrauben oder Schweißen einsetzbare, Stilelement bewusst aus: Um enge Toleranzen abzuschaffen, um Grenzen aufzulösen. Und vor allem aus Rücksicht gegenüber meinem Chef und seinen letztendlich  all uns SMS-lern zu Gute kommenden Unternehmenszielen. Weil er sich unermüdlich, meist still und allein, hoch oben im fünften Stock in seinem Büro hinterm Schreibtisch sitzend darum kümmert, den internationalen Geschäftsbetrieb der Buss-SMS-Canzler mit Fach- und Sachverstand und mit seinem Kapital am Laufen zu halten. Zum Wohl seiner Kunden und zum Wohl seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Familien, und nicht zuletzt auch zu seinem eigenen Wohl. – Wow! Was für eine Gesamtverantwortung, die schon im normal verlaufenden Berufsalltag, ohne Corona-Reiseeinschränkungen und Quarantänebestimmungen, nicht leicht zu managen ist.

   Solch ein internationales Geschäftsleben aufrecht zu erhalten, wenn auch nicht von meinem jetzigen Chef über die Gesamtdauer von inzwischen 101-Jahren, ist die Magie der Industrie. Auf so langer Distanz nur zu schaffen mit Hilfe der wohl wichtigsten Schlüsselqualifikation: Where passion meets profession. Und der Magische Realismus trägt einen winzig kleinen, im Berufsalltag kaum wahrnehmbaren, sich vielmehr unterschwellig auf den Teamgeist und die Arbeitsatmosphäre positiv auswirkenden Teil dazu bei. Weil, ähnlich wie bei einer schweißtechnischen Mischverbindung, stahlharte Fakten verbunden mit einer phantasievollen Geschichte, unser aller (Berufs-)Leben vereinfacht. Was immer dann der Fall ist, wenn man sich beim Lesen am Kopf kratzend fragt, „Was ist Traum und was Wirklichkeit?“ Oder, um es mit den Worten meines lieben alten Kollegen Michael Reusch auszudrücken:

   „Stephan, manchmal weiß ich nicht, ob du das wirklich so erlebt hast oder ob du mir ein Monteursmärchen aus tausendundeiner Nacht erzählen willst.“.

   So soll es sein! Herzlichen Dank, Michael, für Deine wertvolle, wenn auch von mir zwecks Aufrechterhaltung der Magie lediglich mit einem geheimnisumwobenen Schmunzeln kommentierte, Empfindung.

   All das hab‘ ich erzählt, damit Sie und unser Chef leichter nachvollziehen können, warum ich mich in meiner, mit dem laufenden Geschäftsbetrieb zusammenhängenden Quarantäne-Fall-Geschichte, tunlichst davor hüte, alles zu erzählen. Erst recht nicht technisch und empathisch 100-prozentig nachvollziehbar. All jene, die mich deswegen mit einem Kopfschütteln als einen vom Boden der Fachwelt abgehobenen Phantast abtun, – Danke für das Kompliment! – möchte ich auf ein Zitat von Mark Twain (1835–1910) hinweisen: „Man muss die Tatsachen kennen, bevor man sie verdrehen kann.“

   Anders herumgedreht gesagt: Würde ich dies nicht tun, wär’s sehr langweilig. Vor allem aber bestünde ohne den Magischen Realismus die große, SMS-geschäftsschädigende Gefahr, dass mein Chef niemanden mehr in seinem Mitarbeiterkreis findet, der sich auf eine Quarantäne einlassen würde. Jemand, der ihm aus Loyalität sein Ja-Wort gibt. In guten, wie in schlechten Zeiten.

   Nur so viel sei noch flott verraten, und ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass es stimmt: Während meiner vierzehntägigen Quarantäne habe ich es vier Mal bereut, ihm vorschnell „Ja!“ gesagt zu haben. Was auf die recht kurze Zeitspanne bezogen, schon recht viel Reue ist. Schließlich soll‘s Menschen geben, die ihr Leben lang bereuen, jemandem nur ein einziges Mal ihr Ja-Wort gegeben zu haben. Aber egal, ist ‘ne andere, sicherlich auch spannende, sich in den meisten Fällen aber außerhalb des Berufslebens abspielende Privatgeschichte.

   Im Quarantäne-Fall hab‘ ich‘s zum ersten Mal bereits kurz nach der Landung bereut. Noch im Flughafengebäude von Pudong. Als mir ein, (Achtung! Monstersatz), in einem weißlaminierten Polypropylen-Ganzkörperschutzanzug steckender, mit enganliegender Schutzbrille, Mundschutz und Gesichtsvisier bewehrter, und bis an seine Ellbogen reichenden, dort mit Klebeband versiegelten Handschuhen geschützter Chinese, ein fleischspießähnliches Stäbchen in mein rechtes Nasenloch rammte. – Wrooom! – Was er mit der Entschlusskraft eines in einer Rüstung steckenden, mit einer Lanze bewehrten Ritters tat. Ich hatte das stechende Gefühl, die Stäbchenspitze würde an der Rückseite meiner Augenhöhle wieder austreten – Zack! – wo ich sie, mit meinem linken Auge drauf schielend, hätte sehen können. Vermutlich sah der ritterlich gestimmte Chinese in meiner Augenhöhle seine große Chance. Im Rund des Knochens jenen begehrten Ring, den er aus vollem Galopp mit seiner Lanzenspitze aufzuspießen hatte, um zur Belohnung, den besiegten Kontrahenten im Staub der Pudong-Airport-Arena zu seinen Füßen liegend, die bildhübsche Tochter des chinesischen Kaisers heiraten zu dürfen.

   Rückblickend stelle ich fest, dass es meiner mich bislang fast immer gut beratenden inneren Stimme auch mit Hilfe der Musik gelungen ist, mir diese turbulente Zeit schön zu singen. Gar derart wunderschön, dass ich meine Quarantäne nicht als Robinsonade sah, als vielmehr eine positiv hell beleuchtete Idylle. Deswegen würde ich auch zukünftig die von meinem Chef an mich gestellte „Würden Sie“-Frage mit einem lauten, deutlichen „Ja!“ beantworten. Mit einer einzigen Ausnahme! Falls eines Tages ein die Menschheit gefährdender Virus ausbrechen sollte, der nach der Landung im Flughafengebäude durch einen, mittels fleischspießähnlichen Stäbchens durchgeführten, Schnell-Test-Abstrich im After nachgewiesen werden kann.

   Die Gründe, warum ich drei weitere Male bereut habe, vorschnell meinem Chef das Ja-Wort gegeben zu haben, verrate ich in der richtigen Geschichte. Nur so viel: Die zweiwöchige Quarantäne war eine Rückbesinnung auf die von Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) von seinem Volke, sprich, von uns Deutschen, verlangten Tugenden: Bescheidenheit und Leidensfähigkeit. Diesen erlaube ich mir, aufgrund meiner erlittenen Erfahrung und in aller Bescheidenheit, zwei weitere Tugenden hinzuzufügen: Demut und Reue. Woraus sich wiederum in mir ein aufrichtiges Empfinden von Mitgefühl und Dankbarkeit entwickelte. Und jede Menge Erkenntnisse. Allein durch die geschärfte Wahrnehmung kleinster Veränderungen. Durch die wiedererlangte Wertschätzung der kleinen Dinge des beruflichen Quarantänelebens. Eine Läuterung hinsichtlich eines uns allen theoretisch bekannten, praktisch jedoch eher selten konsequent gelebten Ratschlags. Vor ziemlich genau dreißig Jahren volkstümlich besungen von Patrick Lindner.

„Die kleinen Dinge des Lebens,
schenkt dir [und mir] der Himmel vergebens …“

   Mein Quarantäneleben war eine weit über mein Berufsleben hinausreichende Bereicherung! Voller toller Erkenntnisse. Die zweitwichtigste war: Räumliche Enge schafft Weite im Kopf. Anders ausgedrückt: Die mir genommene räumliche Freiheit schenkte mir geistigen Freiraum. Dank diesem erlangte ich die allerwichtigste Erkenntnis, die mich zwar seit meiner Ausbildung durchs gesamte Berufsleben begleitet, sich aber meiner schweißrauchvernebelten Denke bislang nicht offenbarte.

   Eine erste blasse Ahnung, „dass es hinter dem Schweißrauch noch etwas anderes geben musste“, spürte ich Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrtausends. Als ich im zarten Alter von kaum mehr als sechszehn Jahren, als vorschlaghammerschwingender Lehrling, an die Seite eines erfahrenen Kupferschmieds namens Siegfried gestellt, am eigenen Leibe spürte, wie schweißtreibend es doch ist, sein Geld mit den Händen zu verdienen. Zu jener zwar schweren, in der Nachbetrachtung aber äußerst lehrreichen Zeit gab mir Siegfried den Hinweis, wie schlaue Menschen ihr Geld verdienen. Ohne Umschweife frei raus und mit metallischer Nachhallwirkung erzählt, wie sich das unter echten Kupferschmieden gehört.

   „Stephan, manche Menschen schaffen das schier Unmögliche und machen aus Scheiße Geld.“

   „Das will ich auch können!“ hörte ich, in der Hoffnung auf eine scheinbar simple wie lebenslangsichere Einnahmequelle, meine innere Stimme sagen, die wiederum laut anderer Stimmen aber meist nur geistigen Dünnschiss von sich gab.

   Viele Jahre der Verwirrung und lehrreicher Erfahrung später sollte ich verstehen, dass auch Siegfried es geschafft hat. Auf seine persönliche Art und Weise. Entsprechend seiner handwerklichen Fähigkeiten. Er folgte einfach seinem Chef, der dieses schier Unmögliche schaffte. Indem Siegfried für ihn sein Berufsleben lang Klärschlammtrockner zusammenschweißte.

   „Beides ist miteinander verbunden“, verriet mir Siegfried und setzte nach. „Unlösbar!“, gefolgt von einem, von beruflicher Weisheit zeugenden Lächeln, während ich ihm zusah, wie er den abgebrannten, an der Spitze noch rotglühenden Stabelektrodenstumpf mit einer in Fleisch und Blut übergegangenen Schweißzangenbewegung in ein Metallkästchen schnippte und anschließend eine neue Stabelektrode zwischen die Kontakte der Zange klemmte.

   „Nicht nur Schweißen verbindet. Auch Scheißen!“, hörte ich ihn noch sagen, wonach er mit einem berufstypischen Nicken den Schweißhelm herunterklappen ließ.

   „Denk nur an die alten Römer, Stephan“, sprach Siegfried weiter, was sich unter dem Helm gesprochen, geheimnisvoll hallend anhörte. Währenddessen der vom Schmelzbad der Stabelektrode aufsteigende, seinen Oberkörper und Kopf umwabernde Schweißrauch mich an Dschinni erinnerte, der in einer ähnlich imposanten Rauchwolke aus Aladins Wunderlampe heraus und emporstieg. Siegfried fuhr fort.

   „Während die Römer ihr großes Geschäft machten, schlossen sie gleichzeitig geschäftliche Beziehungen. Kleine und große Geschäfte. Du kennst doch sicher den Ausdruck.“ Ich hörte Siegfried kurz lachen. „Gern auch von unseren ach so feinen Kupferschmied-Kollegen verwendet, die sich mit einem Räuspern entschuldigen, weil sie ihr großes Geschäft machen gehen müssen.“

   Noch bevor die Stabelektrode abgeschmolzen war, warnte mich Siegfrieds hallende Stimme eindringlich.

   „Gib Acht, Stephan! Vor dem großen Unterschied. Zwischen dem stoffschlüssigen und dem unförmigen Verbindungsverfahren. Vor dem widerspenstigen kleinen w.“

   Ich erinnerte mich daran, wie mich mein Ausbildungsmeister bei der Kontrolle meines Berichtsheftes zu mehr Konzentration ermahnte. „Besonders wenn du deine Tätigkeiten in der Schweißtechnik aufschreibst“, sagte er und machte zwei rote Kringel. Scheißstrom an der Scheißmaschine eingestellt.

   „Dennoch“, so erklärte mir Siegfried, „verbinden beide Verfahren. Metallisch und menschlich. Lokal und international.“

   „Ist das nicht phänomenal!“, sagte Siegfried begeistert, während er mich mit hellwachen Augen ansah. Kurz nachdem er seinen Schweißhelm hochgeklappt und aus seinen Lungen den inhalierten Schweißrauch, wie der kleine Drache bei Tabaluga, ausgepustet hatte.

   Mal abgesehen von den Blasen an meinen zarten Händchen war‘s eine unvergesslich-lehrreiche, sorgenfrei-schöne Ausbildungszeit!

   Und eben weil es das seinerzeit tat, heute tut und immer tun wird – weil beides verbindet – saß ich, bevor ich mich beim Kunden in Shanghai der Schweißtechnik zuwenden konnte, zwei Wochen in der Scheiße. Sprich, in chinesischer Quarantäne. Und als ich dort mit gerümpfter Nase so dasaß, sah ich plötzlich in einer unter der Zimmerdecke schwebenden, imaginären Schweißrauchblase meinen alten, viel zu früh an Lungenkrebs verstorbenen Kollegen Siegfried. Mein Held aller Kupferschmiede! Ich hatte Freudentränen in den Augen. In einer meiner schwersten Stunde war er gekommen, um mich an einen branchenbezogenen Ratschlag zu erinnern, den er mir seinerzeit, in weiser Voraussicht auf meinen beruflichen Lebensweg durch die internationale Klärschlammindustrie, gegeben hatte:

   „Stephan!“, so hörte ich Siegfried wie bereits damals im ernsten Tonfall sagen. „Wenn dir mal die Scheiße bis zur Oberkante-Unterlippe steht, lass bloß den Kopf nicht hängen!“

   Aus leicht nachvollziehbaren Gründen hab‘ ich in all den zurückliegenden Berufsjahren seinen Ratschlag brav befolgt. Bis auf ein einziges Mal. Als ich in einem unachtsamen Moment, der Verzweiflung sehr nahe, aufgrund einer am Rotor eines Klärschlammtrockners abgerissenen Schraube, meinen Kopf kurz hängen ließ. Weil ich aus dieser Erfahrung nur allzu gut weiß, wie bitter das schmeckt und wie lange, trotz Zähneputzen und Gurgeln, der Nachgeschmack anhält, achtete ich peinlichst darauf, stets mit erhobenem Haupt durch die Quarantäne zu gehen. Und im Anschluss natürlich auch durch die Klärschlammanlage unseres Kunden in Shanghai.

   Siegfried war seiner Zeit weit voraus. Er war ein Follower, obschon es seinerzeit noch kein Instagram, Twitter und Co. gab. Während der Arbeitszeit gab es für ihn nur seinen Kupferschmied-Vorschlaghammer, seine Schleifmaschine und paketweise Stabelektroden. Und ab und zu, hinter dem zugezogenen Schweißvorhang, ein oder zwei, maximal drei Schnäpschen. Fast 50 Jahre lang folgte Siegfried seinem Chef. Er war einer der weisesten Kollegen, die ich kennenlernen durfte. Ich habe ihn fachlich und menschlich sehr geschätzt. Für seine, mich mit erhobenem Haupt weiterbringenden, Ratschläge fast väterlich geliebt.

   Nach dieser grundlegenden Klärschlammerfahrung sollte ich im Laufe meines Berufslebens tatsächlich Menschen kennenlernen, denen das schier Unmögliche gelingt. Auf legale Weise. Zum Wohle all ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ja, zum Segen der gesamten Menschheit und der von ihr mehr und mehr durch Abwasser belasteten Umwelt. Durch Technik und Knowhow. Diese Menschen sind Visionäre. Sie folgen ihren uralten Naturinstinkten. Im Anwendungsfall „Klärschlammtrocknung“ verlassen sie sich auf ihre Nase.

   Es sind die Alchemisten des modernen Industriezeitalters. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren im Mittelalter, denen es nicht gelang, Blei in Gold zu verwandeln, gelingt ihnen die Stoffumwandlung. Sie sind Meister der alchemistischen Naturlehre von den Eigenschaften des Klärschlamms und seinen stofflichen Reaktionen.  

   Dies weiß ich ebenfalls alles von Siegfried. Sein damals schon uralter Chef, so erzählte er mir, der heutzutage mindestens 140 Jahre alt sein müsste, soll sich als junger Ingenieur und angehender Geschäftsmann mit auf den Oberschenkeln gestützten Ellbogen an einem stillen, ziemlich beschissenen Örtchen gefragt haben, wie er das, was ihm gerade hinten herauskam, zu Geld machen kann? Mit diesem unförmigen, von Menschen auf der ganzen Welt in zwingender Regelmäßigkeit produzierten Rohstoff; mit der in ihm steckenden, erneuerbaren Energie. Es war die Geburtsstunde der Klärschlammtrocknungstechnologie.

   Aus der einst beim großen Geschäft ersonnenen Geschäftsidee sollte ein großes, erfolgreiches, internationales Geschäft werden. Ein Big Business. Das, wenn man‘s genau nimmt und mit Siegfrieds auf den Punkt gebrachten Worten wiedergibt, uns auch heute noch, im wahrsten Sinne des Wortes, am Kacken hält. Es ist die Magie der Klärschlammindustrie!

   Seit Jahren schon verspüre ich bei der Arbeit, nein – keinen Brechreiz, vielmehr einen Schreibreiz, über dieses faszinierende Thema – Klärschlamm – eine Geschichte zu schreiben. All jenen, die nun vorschnell ihre Nase rümpfen oder gar empört sind, weil ich über dieses, bisweilen erbärmlich stinkende Tabuthema intensiv nachdenke und sogar – Empörung! – eine Geschichte darüber schreiben werde, denen sei folgendes gesagt: Durch ihre Abscheu leugnen sie ihre eigene, ihnen von Gott gegebene, von mir aus auch von Darwin aufgezeigte, Natur.

   Besonders intensiv verspürte ich diesen, mich in den Fingern kitzelnden Schreibreiz vor einigen Jahren während eines beruflichen Einsatzes in Mumbai. Genaugenommen beim Anblick der Heiligen Kühe in Indien, die, von Shivas Gnaden wohlbehütet und deswegen ohne Rücksicht auf das wuselnde Leben, dort, wo sie gerade stehen, ja, manchmal sogar beim Gehen!, ihre Notdurft verrichten dürfen. Nicht selten mitten auf der Straße, wodurch sie den eh schon chaotischen, wenn überhaupt im Schritttempo vorangehenden Verkehr vollends zum Erliegen bringen. Nichts geht mehr. Solange, bis die zeitgleich in einer Seelenruhe wiederkäuende Heilige Kuh ausgeschissen ist, ihren Schwanz wieder langsam abgesenkt hat und mit sichtlich erleichtertem Gesichtsausdruck weiter ihres Weges wandelt. Einerseits war ich verblüfft über diese tierische Überlegenheit und Coolness in der Öffentlichkeit. Andererseits verärgerte mich ihre Notdurft. Wegen der blöden Kuh geriet ich in von Minute zu Minute größer werdende Zeitnot, auf dem Weg zum Flughafen im Stau stehend. Was mich zu einer spontanen, just im Moment des Auftreffens auf dem Asphalt – Flatsch! – punktgelandeten Äußerung verführte: „Holy Shit!“

   Dies sollte die Überschrift der Klärschlammgeschichte werden. Kaum mehr ist’s bislang geworden. Doch nun, nach der in der Quarantäne gewonnenen Klärschlammerkenntnis in Kombination mit meinem indischen Reiz-Reaktionsschema, werde ich mir die Zeit nehmen. Die Faktenlage ist klar. Berufs- und lebensnah. So klar wie vom Klärschlamm geklärtes Trinkwasser. Die Überschrift ist Programm. „Holy Shit!“ Die sich dadurch auftuende Phantasie grenzenlos.

   Keine Phantasterei ist, dass mein Chef und sein chinesischer Kunde ebenfalls fantastische Visionäre sind. Alchemisten, die zu jenen geschäftsbegabten Menschen zählen, denen das schier Unmögliche gelingt. Sie können nicht nur groß Denken, sie wissen es auch umzusetzen. Sie sind großartige Macher!

   Um diesen phänomenalen Gesamtzusammenhang zu begreifen und um die Verstopfung in meinem Hirn zu lösen, habe ich drei Jahrzehnte benötigt. Gänzlich erst durch die erwähnte, mir von der chinesischen Gesundheitsbehörde auferlegte Anweisung. Gerade, als ich zu Gange war, meine möglicherweise mit Corona-Viren kontaminierte Hinterlassenschaft unschädlich zu machen. Es war an einem schönen Quarantänetag, als ich staunend dem weißen Pülverchen zusah, wie es die Toilettenschüssel in einen brodelnden Vulkankessel verwandelte. Als ich nach der vorgeschriebenen Einwirkzeit die Spülung betätigte und meine, nun virusfreie Hinterlassenschaft mit einem – Wush! – im Abfluss – Nein! – nicht auf Nimmerwiedersehen – verschwand. „Heureka!“, rief ich, wie einst Archimedes (287–212 BC), als er das Prinzip des Auftriebs verstand. Als ich wiederum begriff, dass ich meine runtergespülte Hinterlassenschaft beim Kunden wiedersehen würde. Wenn auch nicht für sich alleine. Stattdessen mit vielen anderen vermengt. Auf einem wirklich, ich meine, wirklich riesigen Haufen.

   Wer sich dessen Riesigkeit deutlicher vor Augen führen möchte, dem empfehle ich ein simples Rechenexempel. Ausgehend von, sagen wir im Durchschnitt 120 Gramm pro Kopf, pro Tag, multipliziert mit 22 Millionen Einwohnern Shanghais. Macht zusammen, auf einen Haufen gekippt …

   Später, während der Installationskontrolle der Klärschlammtrocknungsanlage, müsste ich mir mit weit in den Nacken gelegtem Kopf diesen Riesenhaufen genauer ansehen. Um zwecks optimaler Prozessparametereinstellung ein Gefühl für die Konsistenz des Einspeiseproduktes in die Trockner zu bekommen. Aug in Aug mit dem Rohstoff würde ich die tief in ihm steckende Weisheit entdecken. Vorangegangen der Versuch, den Unterschied zwischen „meinem“ und „dem der anderen“ zu finden. Auf Spurensuche hab‘ ich wie ein Hund dran geschnuppert, mit einem Stock drin rumgestochert und mit einer Schaufel den Berg umgegraben. Am Ende des Arbeitstages angekommen, würde ich noch nicht mal annähernd sagen können, welches winzig kleine Häuflein meins war, das ich während der Quarantäne das Klo runtergespült habe.

   Das Ergebnis meiner organischen Identitätsuntersuchung war eindeutig, klar wie geklärter Schlamm. Egal aus welchem Kulturraum, ob Asiate oder Europäer, ob aus Shanghai oder aus Merode, ob Männlein oder Weiblein, ob jung oder alt: Bezogen auf das, was am Ende rauskommt, ist die Menschheit ein homogenes, großes Ganzes „Wir“. Bei dieser Erkenntnis spürte ich eine überschwängliche Gefühlswallung. Ein bis dato in dieser Intensität noch nie empfundenes Wir-Gefühl. Ich fühlte mich sehr verbunden. Mit der Welt und allen Menschen. Ich hatte Tränen in den Augen. Gleichzeitig kamen mir Siegfrieds heilige Worte in den Sinn. Beides verbindet. Lokal und international. „Phänomenal“, hörte ich mich andächtig leise sagen. Nach wie vor den wirklich riesigen Berg vor Augen. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass die Klärschlammtrocknungstechnik weit über das technologische Verständnis hinausgeht. Sich auf unterschiedlichsten Ebenen des Lebens abspielend. Gefühlsintensiv und tiefsinnig. Mit einer reizvoll-spannenden Themenvielfalt. Vom Stuhlgang über die Geschäftswelt und die Technik, bis hin zur Philosophie. Es ist ein, selbst in Fachkreisen, unterschätztes Thema. Wir sollten sorgsam damit umgehen, dachte ich, und verspürte ein unwohles Gefühl. Denn wenn wir es nicht tun, widerfährt uns eines Tages das gleiche Schicksal wie Atréjus‘ Pferd Artrax. Sie kennen sicherlich die herzzerreißende Szene in der Unendlichen Geschichte. Als Atréjus, unterwegs im Sumpf der Traurigkeit, in eine schwere Depression verfällt und, ohne Gegenwehr leisten zu können, mit ansehen muss, wie sein treuer, geliebter Weggefährte Artrax im Schlamm versinkt.

   Bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrtausends erkannte Michael Ende das auf uns zukommende Problem und setzte diese Szene als eine Allegorie zum Klärschlamm: Wenn wir ihn nicht umweltfreundlich aufbereiten, werden wir Menschen, bis zu den Knien in Schlamm stehend, mit hilfloser Traurigkeit darin versinken. In unserer eigenen Sch… – na, Sie wissen schon.

   Und deswegen möchte ich noch mal kurz auf die Toilettenspülung zurückkommen. Auch wenn sich bislang beim Betätigen derselbigen kaum jemand dafür interessieren dürfte: Um dieses Worst-Case-Schlamm-Szenario zu verhindern, helfen weder Captain Amerika noch die Heinzelmännchen von Köln. In der realen Welt muss es Klärschlammhelden geben, die sich diesem, Tag für Tag anfallenden, Riesenhaufen annehmen

   Mit Hingabe und Leidenschaft. Neben meinem Chef ist auch unser Kunde solch ein Held. Als Betreiber der zweitgrößten Abwasseraufbereitungsanlage der Welt. Inklusive integrierter Klärschlammtrocknung. Auf seinem Firmengelände wird täglich die unglaubliche Menge von 1.200.000 Tonnen Abwasser zu Frischwasser aufbereitet. Tag für Tag. Was an einem einzigen Tag mehr als doppelt so viel ist, wie die im ganzen Jahr (!) geklärte Wassermenge meiner 16.000 Einwohner zählenden Heimatgemeinde Langerwehe. Und nur ein paar Kilometer weiter, am anderen Ende Shanghais, betreibt ein anderer Held die mit zwei Millionen Tonnen Tageskapazität weltweit größte Abwasseraufbereitungsanlage. Ich sage nur, Bravo!

   Und ich schlage vor, dass die zweiundzwanzig Millionen Einwohner Shanghais beim nächsten großen Geschäft eine Gedenkminute einlegen. Um, statt mit gelangweilt auf den Knien gestützten Ellenbogen, ausnahmsweise aufrecht sitzend, unseren Klärschlammhelden in respektvoller Haltung zu danken. Weil sie Sorge dafür tragen, dass dieser täglich anfallende Riesenhaufen, wozu jeder sein Häufchen beiträgt, nicht mehr in die Flüsse und ins Meer geleitet wird. So nach dem Motto aller Sorglosen, „Die Natur wird sich schon drum kümmern.“

   Spätestens wenn ich beim Kunden ankomme, in der Welt des Big Business, wird man den wertvollen Rohstoff allenfalls hinter vorgehaltener Hand beim schmutzigen „Sch“-Wort nennen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, dass es versehentlich mal rausrutscht. Wenn beispielsweise bei der Arbeit eine „Sch…“-Schraube klemmt. Doch normalerweise nennt man den Rohstoff, wörtlich verfeinert und salonfähig aufbereitet, „Schlamm“, beziehungsweise bei englischsprachigen Geschäftsbeziehungen, „Sludge“. Was ich von jetzt an, mich der Etikette dieser Branche anpassend, ebenfalls tun werde. Womit wir zum eigentlichen Aufbereitungsprozess kommen.

   Dieser sogenannte Schlamm wird, in zwanzig wunderschön-stählernen, in Summe viele hundert Tonnen schweren, dampfbeheizten Klärschlammtrocknern, wie ihr Name verrät, getrocknet. Anschließend wird der, immerhin noch 30 % Restfeuchte enthaltende, optisch aber eher staubtrocken-krümelig aussehende Schlamm im Ofen eines Kraftwerks verfeuert. Die dabei von ihm abgegebene Wärmeenergie treibt eine Dampfturbine an, die wiederum elektrische Energie erzeugt. Elektrizität die benötigt wird – Achtung – jetzt kommt der Knaller! – um Shanghai im Lichtermeer hell leuchten zu lassen. Wow! Und weil’s so wichtig war und nachhaltig einleuchten soll, noch einmal: Die Hinterlassenschaften von Millionen Shanghainesen, die im Allgemeinverständnis mit der Toilettenspülung „aus den Augen, aus dem Sinn“ sind, begeben sich in Wirklichkeit auf eine lange, aber lohnenswerte Reise. Von der Kloschüssel über die Kanalisation auf den Firmenhof unseres Kunden. Dort durch einige Vorbehandlungsstufen und die SMS-Klärschlammtrockner hinein in einen Kraftwerksofen und durch eine Turbine, von der aus – Simsalabim! – der inzwischen in Elektronen umgewandelte Schlamm über kilometerlange Stromkabel hin zu Millionen und Abermillionen von Glühbirnen gelangt. Die, allabendlich über Lichtschalter angeknipst, unsere Blicke magisch anziehen. Beim ganzheitlichen Anblick den romantischen Anschein erwecken, als sei der Sternenhimmel auf Shanghai gefallen. Nüchtern betrachtet steckt hinter dem Lichterglanz unsere eigene Sch…; Tschuldigung! – fast wär’s mir rausgeflutscht. Wollte sagen, unser eigener Schlamm.

   Wer nun immer noch nicht von der Magie der Klärschlammindustrie fasziniert ist, nun, dem ich kann ich auch nicht mehr weiterhelfen. Noch Faszinierender geht‘s nicht.

   Nur noch wenige Stunden von der magischen Schwelle entfernt, die das Ende meiner Quarantäne und den Beginn meines Einsatzes im Klärschlammwerk markiert, stand ich an der Fensterfront. Die letzte Galashow lief. Am Horizont leuchtete Shanghai. So wie an jedem der zwölf Abende zuvor war ich hingerissen von ihrer verführerischen Anziehungskraft. Ich dachte an Michael Holm. Hörte mein Unterbewusstsein die schnulzigen Klänge spielen, derweil ich die große, mich mit schönen Frauen, Musik und Tanz anlockende Stadt aus sicherer Entfernung betrachtete. Wenn auch nun mit anderen Augen. Ganzheitlicher. Die gesamte Prozesskette. Nun sah ich auch hinter den Glanz. Den durch ihn verblendeten, nicht offensichtlichen Schlamm. Jenen wertvollen Rohstoff, der die Lichter zum Leuchten bringt. Ich dachte an meinen Chef und seinen chinesischen Kunden. Und ich fand, die Klärschlammindustrie hat es verdammt noch mal verdient, in einem zeitgemäßen Technologie-Update des Michael-Holm-Schlagers erwähnt zu werden. Um über die Volksmusik das Volk auf ihre mit dem Lichterglanz einhergehende Hinterlassenschaft aufmerksam zu machen. Die Menschen haben ein Recht darauf zu erfahren, was nach dem Toiletten-Flush geschieht. In Form einer prozesstechnischen Fortsetzungsgeschichte des Sachbuches „Darm mit Charme“ von Giulia Enders und seinem Untertitel, „Alles über ein unterschätztes Organ“. Dem könnte folgen, „Der Glanz des Klärschlamms“. Sein Untertitel, „Alles über die unbekannte Umwandlung des vom Darm ausgeschiedenen Stoffes“.

   Um das öffentliche Interesse an diesem tollen Thema zu wecken, appelliere ich für unverblümte Aufklärung. Auf dass es die Menschen mit Stolz erfülle. Weil sie zukünftig aufgeklärt auf dem Klo sitzen. Ihren persönlichen Anteil am Lichterglanz spürend, derweil sie das daraus umgewandelte Ergebnis aus dem Toilettenfenster blickend sehen können. Was ihnen an Ort und Stelle gleich vierfache Freude bereiten wird:

1.) Sie fühlen sich körperlich erleichtert.
2.) Sie erfreuen sich des Lichterglanzes.
3.) Sie wissen, dass die Klärschlammtechnologie ihre Umwelt schont.
4.) Sie haben keine Angst mehr, eines Tages in ihrem eigenen Schlamm
     zu versinken.

   Weil sie im positiven Wortsinn auch hinters Licht geführt wurden, bin ich sicher, dass sie fortan ihre leuchtende Stadt mit anderen Augen sehen werden. Dank unverblümter Aufklärung. Und wenn nicht als Sachbuch, dann von mir aus auch schnulzig. So nach dem leicht veränderten Liedtextmotto, „Schlager lügen nicht“. Und sie verheimlichen nichts. Ebendeshalb hier mein, in Anlehnung an den Originalliedtext von 1974, Update-Vorschlag für Ralph Siegel und den kommenden Eurovision Song Contest:

„Die große Stadt lockt mit Ihrem Glanz
Mit schönen Frauen, mit Musik und Tanz
Doch der Schein enthüllt nicht alles
Was er Dir verspricht
Rümpfe die Nase nicht
Sieh‘ genau hin – doch erbreche nicht
Sei dankbar und glücklich
Dein geklärter Schlamm macht das Licht.“

   Ich merkte, wie die Stimmung des letzten Quarantäneabends an mir arbeitete. Verspürte sogar ein wenig Wehmut. In ein paar Stunden würde diese besondere Auszeit, die von Außenstehenden durchaus als „Freiheitsberaubung“ betrachtet werden könnte, zu Ende sein. Einerseits war’s jammerschade. Andererseits hatte ich den Kopf voll von Dingen, die ich tun würde, nachdem ich die Türschwelle am kommenden Abend zum ersten Mal seit zwei Wochen von innen nach außen überschritten hätte. Würde, würde, würde … Beim Check-out würde ich von der chinesischen Gesundheitsbehörde eine Bescheinigung erhalten, dass ich als Corona-freier Mensch das Quarantänehotel verlassen würde. Es würde ein besonderer Moment werden. Wieder raus. Zurück in die Freiheit. Besungen von Marius Müller-Westernhagen in einer Rockballade, die, obwohl sie den Verlust von Freiheit beklagt, zur Hymne der Befreiung von der DDR-Diktatur wurde. In ihrer Kernaussage auf das in Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes verankerte Grundrecht hinweisend. Auf das höchste Gut, welches mir, dem in einem freien Land lebenden, freiheitsliebenden und bis dato freiheitsgewohnten Menschen für zwei Wochen entzogen wurde. Nur noch einmal Schlafen, – dann würde ich sie zurückerlangen. Wenn ich dem Liedtext glauben würde, begleitet von Pauken und Trompeten und Persönlichkeiten.

„Die Kapelle, rum-ta-ta
Und der Papst war auch schon da.
[…]
Freiheit, Freiheit,
Ist das einzige, was zählt.

   Ziemlich am Ende dieses Erklärungsversuchs angekommen, bleibt, wie in so manch beruflich schwieriger Lebenslage, die Hoffnung: Dass mein Chef mir verzeihen wird. Und verstehen, dass ich all diese hier nur kurz erwähnten Themen, und noch ein paar mehr, unmöglich in einen kurzen Artikel quetschen konnte. Während ich’s anfänglich noch versuchte, nahm das Textvolumen in ähnlich raschem Umfang zu, wie der eines beim Kindergeburtstag vom Papa mit kräftiger Lunge aufgeblasenen Luftballons. Und damit die voluminöse Geschichte nicht platzt, werden es zwei. Eine Quarantänegeschichte und eine Holy-Shit-Klärschlammgeschichte. Somit verspreche ich hier und jetzt meinem Chef, mit meiner flachen Hand auf dem SMS-Logo meines Arbeitsshirts liegend, den von ihm gewünschten Artikel in eine andere Energieform zu transferieren.

   Wogegen er nun wirklich nichts einwenden kann. Zumal er ja selber, den physikalischen Gesetzen der Energieerhaltung folgend, durch die Klärschlammtrockner seinem chinesischen Kunden hilft, die im Schlamm steckende Energie umzuwandeln. Dabei helfe ich den beiden während der Arbeitszeit. Und nach Feierabend verwandele ich die mir tagsüber durch den Kopf gegangenen Buchstaben in eine andere Energieform. Insgeheim darauf hoffend, dass mir durch die mit der Klärschlammindustrie einhergehende Magie das Kunststück gelingt, meinen Chef und alle firmeninternen und
-externen Leserinnen und Leser zu unterhalten; von meiner Quarantäne und unserem Klärschlammprojekt in Shanghai zu berichten; sie durch Lesen zu inspirieren. Und vielleicht gelingt ‘s mir ja sogar, meine SMS-Kolleginnen und -Kollegen zu motivieren. Ausgehend von dem Motto aller (Berufs-)Lebens-Abenteurer: „Es gibt Menschen, die legen Wert auf persönliche Erfahrungen.“ Auf dass ihr euch, wenn künftig unser Chef an eure Bürotür klopft und höflich fragt, mit einer positiven „Ja!“-Einstellung auf das Wagnis Quarantäne einlasst.

   Seien wir doch ehrlich: Eine vierzehntägige Auszeit vom Berufs- und Alltagseben wünscht sich doch jeder von uns. Seit langem vorgenommene, aus Zeitmangel immer wieder aufgeschobene Dinge tun: Abstand gewinnen; äußere Einflüsse reduzieren; innere Besinnung; mal nix tun und wirklich zur Ruhe kommen.

   Es mag vielleicht zu weit hergeholt klingen. Aber auf die Essenz eines solchen Vorhabens bezogen macht’s keinen Unterschied, ob man sich zu Besinnungstagen in ein Kloster in der Eifel zurückzieht, in die Einsiedelei des Heiligen Franz von Assisi, in einen Aschram in Goa, in einen buddhistischen Tempel in Thailand, in eine Höhle im Himalaya, – oder ob man sich für seinen Chef in chinesische Quarantäne begibt.

   Glaubt mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe all diese Möglichkeiten, mehr oder weniger intensiv, ausprobiert. Und nun, nach meiner neuesten Erfahrung, verrat‘ ich euch den überaus lukrativen Vorteil der Quarantänemöglichkeit: Anders als bei allen anderen Auszeiten, brauchte ich mir für diese keinen einzigen Tag Urlaub zu nehmen! Mehr noch. Ich bekam diese Auszeit sogar bezahlt. Und obendrein einen ordentlichen Batzen Spesen. Unterm Strich eine klassische Arbeitgeber-Arbeitnehmer Win-Win-Situation. Unser Chef würde sich über euer „Ja“-Wort riesig freuen. Andererseits seid ihr in den Augen mancher Kolleginnen und Kollegen ziemlich verrückt, es wirklich zu tun. Aber egal. Denn als Gegenleistung für eure Verrücktheit werdet ihr reich belohnt. Zwar nicht auf der Lohnabrechnung. Vielmehr durch all die vielschichtigen Erlebnisse und Erkenntnisse auf engstem Raum. Durch Inner-Engineering. Automatisch in Gang gesetzt durch den von der äußeren Welt herumgedrehten, euch und eurem Inneren vorgehaltenen Spiegel. Ihr werdet gleichermaßen bedrückt wie hocherfreut sein. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Ihr werdet wechselweise lachen, schreien und heulen. Mindestens viermal euer Ja-Wort bereuen und unseren Chef verfluchen.

   Schlussendlich werdet ihr todtraurig sein, dass es – Oh, wie schade! – schon vorbei ist. Gleichsam glücklich, dieses Abenteuer gewagt zu haben. Überglücklich zurück in der Freiheit. Demütig zurückblickend. In aufrichtiger Dankbarkeit für diese, euch von unserem Chef geschenkte Auszeit. „Yipi-Ya-Ya-Yipi-Yipi-Yeah!“

   Wenn dem, am Ende dieser Industriegeschichte angekommen, auch nur annähernd so sein sollte, dann, ja dann hat sich der tiefere Sinn dieses Energieumwandlungs-Schreibprozesses vollends erfüllt: Vom ursprünglich gewünschten Artikel über diesen Erklärungsversuch bis hin zu dem sich noch in der Schreibwerkstatt befindenden Quarantäne-Klärschlamm-Geschichtsbuch. Welches wiederum, auf zauberhafte Weise, jede Leserin und jeden Leser in eine Kindertraum-Erfüllungshelferin. Der Kindertraum-Erfüllungshelfer verwandeln wird. Die Magie der Industrie macht‘s möglich. Erinnern Sie sich an Siegfrieds Worte: Beides verbindet! Schweißen und Klärschlamm! Darüber hinaus weiß ich zu berichten, dass diese Verbindung sogar Kinderträume zu erfüllen vermag. Aber das ist eine andere, gleichwohl faszinierende Querweltein Unterwegs-Geschichte.

   Wenn der Umwandlungsprozess abgeschlossen ist, wahrscheinlich irgendwann im laufenden Geschäftsjahr 2021, werde ich’s euch und unserem Chef mitteilen. Ich verspreche es.

Quarantäne-Hotel „Vienna“, Zimmer 1926
Shanghai Sonjiang District, China im August 2020