– Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) –
Querweltein Unterwegs – Seemannsgarn oder Sabotage in der Antarktis
Erschienen 2010. Neun Geschichten und sieben Farbfotoseiten erzählen von der beruflichen Reise des Autors mit seinem Kollegen Ralf Kunze vom südamerikanischen Uruguay aus zur Antarktis: fünf Wochen unterwegs auf dem norwegischen Krilltrawler Juvel. Der Autor erzählt von seiner zeitlich begrenzten Verwandlung vom Kupferschmied zum Seemann und von dessen Träumereien; dass das Berufsleben kein Wunschkonzert ist; vom kommerziellen Krillfang und dessen fangfrischer Verarbeitung an Bord des Schiffes zu Krillöl und Krillpulver; wie sich die Wale, Robben, Albatrosse und Pinguine gegen eine mögliche Überfischung ihrer Nahrungsgrundlage erfolgreich zur Wehr setzen, wie die Tiere den Krillfang sabotieren und welche Gemeinsamkeiten eine Minigarnele und die deutsche Grammatik haben.
Der Autor verrät, warum er gerne seekrank geworden wäre. Und er erzählt von den stürmischen Gedanken eines europäischen Schweißfachmannes, der um die Schwachstellen der in der Bremerhavener MWB-Werft getrennten, verlängerten und wieder zusammengeschweißten Juvel weiß: als das Schiff eines Nachts in einen schweren Sturm gerät. Er erzählt von den ausgelassenen Freuden der fünfzigköpfigen Schiffsbesatzung, als nach fünf Wochen im Südlichen Ozean das erste Mal wieder Land in Sicht ist, die Küstenlinie Montevideos; wie das Schiff zurück in den Hafen der Hauptstadt Uruguays einläuft und was die Seemänner in ihrer ersten Nacht an Land, im Vergnügungsviertel von Montevideo erleben.
Band 4 zeigt eine Weltkugel in deren Zentrum die Antarktis liegt. Mittig steckt die norwegische Flagge, als Symbol der Südpoleroberung durch Roald Amundsen. In der Eiswüste steht eine Pinguinfamilie, im Eismeer schwimmt ein Wal, auf einer Eisscholle liegt eine Robbe während der Krilltrawler Juvel sein ausgelegtes Schleppnetz durch einen Krillschwarm zieht. Alle Symbole stehen im Zusammenhang mit den im Buch erzählten Geschichten.
„Wem die feste Erdoberfläche nicht mehr geheimnisvoll genug ist, den zieht es aufs Meer hinaus.“
Das (Berufs-)Leben ist kein Wunschkonzert! Auch nicht für Stephan Thiemonds. Glück für ihn: Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Denn statt in die Wüste, wo der Querwelteinreisende schon des Öfteren war, schickte ihn sein Chef zur Antarktis, in die einsame Stille des Südpolarmeers. Auf dem norwegischen Krill-Trawler MS Juvel.
Umgeben von Eisbergen und Pinguinen schrieb er im gewohnten Plauderton seine informativen, ironischen humorvollen Kurzgeschichten. Von den Träumereien eines Kupferschmiedes, der sich einbildet, ein echter Seemann zu sein, von Klabautermännern, Krillfang und einer nicht endenden Sturmnacht, von Seekrankheit, Seemannsgarn und Sabotage.
Der hautnah mitreisende Leser erfährt, was eine antarktische Minigarnele mit deutscher Grammatik zu tun hat und warum Schweißen nicht nur die Juvel, sondern auch uns Menschen verbindet. Überdies ist dem gelernten Kupferschmied das literarisch knifflige Kunststück geglückt, seine Antarktis-Geschichten durch „musikalische Untermalung“ zu bereichern. Kurzum: Perfekte Querweltein-Unterhaltung!
Vorwort aus Norwegen
Fachspezifisches Vorwort
Anmerkung des Autors
- Das (Berufs-)Leben ist kein Wunschkonzert!
- Seemann, lass’ das Träumen
- Fischers Fritze fischt frische Fische
- Seemannsgarn oder Sabotage in der Antarktis
- (See-)Mann oder (See-)Memme?
- Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen
- Der, die, das – wieso, weshalb, warum?
- Zwischen Packeis und Pinguinen
- Land in Sicht!
- Dankedankedanke, Danke schön!
Quellenangaben, Bildnachweis
ISBN 978-3-86963-369-5, Paperback 228 Seiten, 15,90€
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Seemann, lass das Träumen…
… denk nicht an zu Haus
Seemann, Wind und Wellen
Rufen dich hinaus.
Deine Heimat ist das Meer,
Deine Freunde sind die Sterne,
Über Rio und Shanghai
Über Bali und Hawaii.
Deine Liebe ist dein Schiff,
Deine Sehnsucht ist die Ferne
Und nur ihnen bist du treu
Ein Leben lang.«
Youtube Video: Lolita – Seemann, deine Heimat ist das Meer 1960
Entschuldigung, wenn ich Sie in Ihren Tagträumereien unterbreche. Aber ich finde es schon bemerkenswert, dass lediglich die erste Strophe und der Refrain dieses bekannten Seemannsliedes ausreichen, um Sie zum Träumen zu verführen. Und das, obwohl Sie von Berufs wegen höchstwahrscheinlich gar kein Seemann (oder keine Seefrau) sind. Ja, ich könnte sogar eine Pulle Jamaika-Rum drauf verwetten, dass bei diesem Lied selbst diejenigen zum Träumen hingerissen werden, die noch nie eine Schiffsreise angetreten haben, am Rande der Sahara leben oder wasserscheu sind. In meine Statistik mit eingeschlossen sind auch jene »harten« Burschen, die ihre Neigung zu Sehnsuchtsträumereien noch nicht mal unter Androhung von Kielholen – der schwersten Körperstrafe in der Seefahrt – zugeben würden, weil sie sich schämen, durch eine Schnulze, die von Lolita gesungen wird, zum Träumen verführt worden zu sein.
Aus diesen Gründen drängt sich mir der Verdacht auf, dass der Beruf des Seemannes (und alles was damit zusammenhängt) die Gefühlswelt unterschiedlichster Menschen derart in Schwung zu bringen vermag, wie kein anderer.
Um meine Vermutung zu untermauern, möchte ich Sie bitten, weiterhin an meinem kleinen Praxistest teilzunehmen, mit dem ich diese Geschichte begonnen habe. Alles, was Sie zu tun brauchen, ist weiterlesen. Okay?
Na dann, Leinen los! Alle Mann in die Wanten! Hisst die Segel! Wir stechen in See. Noch ein letzter kurzer Blick zurück aufs Land – dann liegt sie vor uns, die unendliche Weite des Ozeans. Bald schon spüren wir, mal abgesehen vom Gefühl der temporären Heimatlosigkeit, das raue Meer. Den scharfen Wind, wie er die Segel strafft und das Schiff zur Seite neigt; wir hören wie die brausenden Wogen am Bug hochschlagen und übers Deck schießen; wir merken, wie uns die Gischt ins Gesicht spritzt, schmecken auf unseren Lippen das Salz des Meeres, spüren am Jucken, dass der Dreitagebart wächst und fühlen uns – wie in der Becks Bier-Werbung – unendlich frei.
»Sail away, you can fly
On this wings of freedom you can reach the sky
Sail away, dream your dreams
You will always find a chance to make your feelings
Come true!«
Youtube Video: Sail away
Wir kommen uns vor, wie um Jahrhunderte zurückversetzt. (Obwohl wir atmungsaktive Gore Tex Jacken von North Face tragen.) Zurückversetzt in die Zeit der Entdecker und Eroberer. In die Zeit von Vasco da Gama, von Sir Francis Drake, Ferdinand Magellan, Captain Cook und Christoph Columbus, als sie mit ihren Segelschiffen für unbestimmte Zeit zu noch unbekannten Kontinenten aufbrachen.
Nachts in unserer Koje träumen wir von kaffeebraunen Südseeinsulanerinnen in Baströckchen und einer im Haar steckenden Hibiskusblüte, die uns beim Einlaufen in den Hafen von Honolulu vom Kai aus zuwinken, uns zum Empfang Blütenkranzketten um den Hals legen und dabei Hüfte-schwingend Aloa hey singen. – Plötzlich wachen wir auf. Schlaftrunken und mit der Ungewissheit, ob alles nur ein schöner Traum war, gehen wir an Deck, atmen die klare, kühle Meeresluft und blicken hinauf in einen schier unendlichen Sternenhimmel, der sich wie das Netz einer Weihnachtsbaumbeleuchtung über uns ausbreitet. Wir hoffen auf eine Sternschnuppe, entdecken das Kreuz des Südens und spüren das Spiel der Wellen; wie sie uns eins werden lassen mit sich und dem schaukelnden Schiff. Und in einem Anfall von Schwermut und einem Hauch von irregeleiteten Einsamkeitsgefühlen beginnen wir leise zu singen …
»I am Sailing, I am sailing,
Home again, ‘cross the sea
Can you hear me, can you hear me,
Through the dark night, far away«
Youtube Video: Rod Stewart – Sailing
Heutzutage, angekommen in einer Zeit, in der der Container die Seefahrt beherrscht, und wir mit dieselmotorbetriebenen Clubschiffen die Weltmeere durchpflügen, lebt die Seefahrerromantik erstaunlicherweise nicht nur weiter, sondern für manch einen ist sie gar, angeregt durch großes Kino, auf ihrem Höhepunkt.
Spät abends, wenn die feine Gesellschaft noch im Speisesaal beim Kapitänsdinner sitzt und ihren gesellschaftlichen Status unter ihresgleichen genießt, zieht es uns raus, hinaus aufs Deck. Die mondhelle Nacht lässt die ruhige See quecksilberfarben schimmern. Wir gehen zum Bug. Überrascht sehen wir vorn an der Reling die heimliche Geliebte stehen, deren offenen Haare und dünnes, vom Mondlicht beschienenes, fast durchsichtiges Kleid im Wind wehen. Während ihr Blick hinunterfällt in die Wellen, dorthin wo der Vordersteven das Meer durchschneidet, treten wir von hinten nah, ganz nah an sie heran. Wir nehmen sanft ihre Hände, heben langsam ihre Arme, führen unsere Lippen an ihr Ohr und flüstern: »Darling, schließ deine Augen und spüre.« (Nein, nicht »ihn« sondern »es!«) Sind unsere Arme dann wie die Schwingen eines Vogels ausgebreitet, rufen wir von allen Sorgen befreit in die Nacht hinaus: »Spür’ es! Spüre, wie es sich anfühlt, der König der Meere zu sein. Frei wie ein Vogel, der mit seinen Träumen auf- und davonfliegt …«
»Every night in my dreams
I see you, I feel you
That is how I know you go on.
Near … Far … Wherever you are
I believe that the heart does go on
Once more … You open the door
And you’re here in my heart
And my heart will go on and on
Love can touch us one time
And last for a lifetime …«
Entschuldigen Sie bitte, wenn ich abermals unterbreche. Aber ich würde Ihnen gerne jene Frage stellen, die mir des Öfteren in den Sinn kam, als ich an Bord eines großen, weißen Schiffes von Südamerika aus zur Antarktis fuhr: Ob mein Beruf die Menschen wohl auch so sehr zum Träumen verführt, wie der des Seemannes? Was bitte, meinten Sie gerade? »Niemals!« Warten wir’s ab.
Zurück zum Praxistest.
Ich sage nur: »Kupferschmied.«
Und zack – begeben sich unsere Gedanken zur Arbeit. Wir denken an eine verrußte Dorfschmiede. Ein rauschebärtiger Schmied in speckiger Lederschürze und hochgekrempelten Hemdärmeln zieht mit einer Feuerzange einen Vierkantstahl aus dem Schmiedefeuer, dessen kirschrotglühende Spitze er mit einem Ballhammer auf dem Amboss zu bearbeiten beginnt, wobei ihm der Schweiß an den Schläfen herunter rinnt und von der Nasenspitze tropft …
Na, hat das knisternde Schmiedefeuer wider Erwarten doch einen Funken Romantik in Ihnen entfacht? Nun gebe ich Ihnen das gleiche Stichwort noch einmal vor. Diesmal jedoch unter der abgeänderten, seit 1992 geltenden Berufbezeichnung.
Ich sage nur: »Anlagenmechaniker, Fachrichtung Apparate- und Anlagenbau.«
Und zack – quälen sich unsere Gedanken zur Arbeit. In eine Neonlicht beschienene Werkhalle, wo neben dem Eingangstor ein Gebotsschild darauf hinweist, Gehörschutz zu tragen. Die Luft riecht metallisch. Und ölig. Arbeiterkolonnen sind damit beschäftigt, dicke Flansche an Edelstahlzargen zu heften, Konen auf Drehvorrichtungen zu spannen, Bleche auf einer Tafelschere zu schneiden, in einer Walze zu runden oder unter einer Presse zu verformen. Längs- und Rundnähte werden geschweißt, ausgefugt, farbeindringgeprüft und gegengeschweißt; im Akkord werden die vorgefertigten Bauteile montiert, Druckproben, Vakuumtests und Probeläufe durchgeführt, sodass den Arbeitern der Schweiß zwischen den Arschbacken runter läuft …
Es ist wohl überflüssig zu fragen, ob kreischende Schleifmaschinen, stickige Schweißrauche und eingefettete Schrauben zu romantischen Träumereien verführen. – Außer vielleicht durch den mit der Arbeiterschaft verbundenen Traum vom Sechser im Samstagslotto der einen aus dem ganzen Dreck und Lärm herausholt, um dann – vielleicht ja als Seemann – seinen Traum von unendlicher Freiheit wahr werden zu lassen. Womit sich der Kreis schließt und wir wieder bei meiner Vermutung angelangt wären.
Wie der Praxistest gezeigt hat, arbeite ich also in einer Branche, die einen höchstens beim Anblick der Lotto-Glücksfee zu romantischen Träumereien anregt. Da ich aber kein Lotto spiele, wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach nie auf die Idee gekommen eine derartige Vermutung anzustellen, geschweige denn, diese Geschichte zu schreiben. Erst als ich mich bei meiner beruflichen Kreuzfahrt auffallend häufig dabei ertappte, wie ich während der Arbeitszeit in einem Zustand fast vollkommenen Glückes Schnulzen sang (oder alternativu summte, wenn gerade jemand in der Nähe war), habe ich begonnen, genauer über dieses Phänomen nachzudenken. Ganz besonders nach den mysteriösen, aber höchst aufschlussreichen Vorkommnissen an einem meiner ersten Abende auf See.
Durch den Blick aus dem Bullauge unserer Kajüte wusste ich, dass es bereits stockdunkle Nacht war, als ich mich noch einmal auf den Weg hinauf zur Kapitänsbrücke machte. Ein Ort, der zum Träumen verführt. Obschon das fehlende Steuerrad nicht, wie auf der Pequod, »durch eine Pinne ersetzt, die aus dem Unterkiefer eines Wals bewunderungswürdig geschickt herausgeschnitzt war«, wie es Ismael in Moby Dick erzählt. Die Juvel gehorcht entweder den Befehlen des Autopiloten oder den Signalen des manuell zu bedienenden Joysticks.
Eins der wenigen Lichter, die auf der Brücke schienen, war das der kleinen Lampe über dem Messtisch. Darauf lagen eine ausgebreitete Seekarte von dem Gebiet östlich der Falklandinseln, das aufgeschlagene Logbuch, ein Lineal und ein Bleistift. Im Schein der Tischleuchte folgte ich über die Karte gebeugt mit dem Zeigefinger der zurückgelegten Strecke: dem vom Hafen Montevideos aus in südlicher Richtung verlaufenden, sorgfältig gezogenen Bleistiftstrich. In regelmäßigen Abständen war er durch Kreuzchen unterbrochen, neben jedem Datum und Uhrzeit vermerkt. Die Verweise zu den Logbucheintragungen. Der des letzten Kreuzchens besagte:
21. Juni 2009 11:30pm 52,38°S, 48,06°O
– on watch 2nd mate, searching for marks, course and speed variable.
Have lights of rule, 23(a) IRPCS-72.
Am Kommandostand leuchteten das grellgrüne Licht des Radars, der Bildschirm der elektronischen Seekarte, die Anzeigen von Kompass, Sonar und Echolot und etliche rote, gelbe und weiße Kontrolllämpchen. Das grüne des Autopiloten stand auf »Activ«. Hinter den Navigationspulten saß auf dem erhöhten Kapitänssitz Yuri, der diensthabende zweite Maat. Der Gehilfe von Kapitän Kjetil saß einfach stumm da und starrte vor sich durch die Panoramascheibe. Und das, obwohl er dort so gut wie nichts sehen konnte. Lediglich der gelbliche Schein der Außenbeleuchtung schimmerte auf den Eiskristallen des zugefrorenen Oberdecks, zeichnete die Silhouette des Lastkrans und die der Reling ab, wie sie den Bug der Juvel umschließt.
Sonst war dort draußen nichts außer der stockdunklen, antarktischen Nacht. Allein das Radar vernahm die Schar von Eisbergen, die der 360° kreisende Vektor als unterschiedlich große, unförmige rote Flecken auf dem Monitor aufzeichnete. Regelmäßig gab das Echolot einen Piepton von sich: Die aktuelle Anzeige gab an, dass der Meeresgrund in 2800 Metern Tiefe unter dem Rumpf lag. Nur das dumpfe, scheinbar aus weiter Ferne kommende, monotone Brummen des Dieselmotors, die Geschwindigkeitsanzeige von 13 Knoten und das sanfte Schaukeln des Schiffes waren deutliche Anzeichen von Vorwärtskommen.
Bei unserer Unterhaltung am Nachmittag hatte mir Yuri erzählt, dass er seit mehr als fünfundzwanzig Jahren zur See fährt. »Es ist ein ständiger Wechsel. Wie der von Ebbe und Flut«, sagte der aus Wladiwostok stammende Russe. Drei Monate auf See – plusminus vier Wochen – dann drei Monate daheim bei Frau und Kindern. An seiner rechten Hand trägt Yuri einen goldenen Ring, der durch die vielen Jahre harter Prüfung mit dem Fleisch seines Fingers verwachsen zu sein schien.
Hauptsächlich, so Yuri, sei er im hohen Norden zur See gefahren; im Polarmeer, in der Barentssee und im Beringmeer. Aber auch Kap Hoorn, fügte er eilig an, habe er umschifft. »Kap Hoorn«, schoss es mir in den Sinn, »die Spitze Südamerikas, wo Atlantischer und Pazifischer Ozean aufeinandertreffen mit all ihren Legenden, Untiefen und Stürmen. Für einen Seemann das nautische Äquivalent zum Besteigen des Mount Everest.«
Um die angenehme Stille nicht durch ein plumpes »Good evening Yuri, how are you«, zu stören, hatte ich mich schweigend neben ihn gestellt, blickte so wie er stumm in die Nacht und ließ die für eine Landratte ungewöhnliche Umgebung auf mich wirken.
Doch was war das? Da vorn, der helle Schein!, direkt neben der Juvel, aus dem – ich konnte meinen Augen kaum trauen – die Nautilus auftauchte. Durch eine von grellem Scheinwerferlicht durchschnittene Nebelwolke beobachtete ich, wie sich am Kommandoturm des futuristischen U-Bootes eine Luke öffnete, aus der, tatsächlich! Kapitän Nemo stieg, der mich mit einer unmissverständlichen Handbewegung einlud, zu ihm an Bord zu kommen. Schnell noch eine Nachricht an Yuri – bin gleich wieder da – und schon tauchte die Nautilus mit mir in die Tiefe; 20.000 Meilen unter dem Meer, wo wir in den Ruinen der versunkenen Stadt Atlantis gegen Riesenkraken kämpften.
»Verdammt, es sind einfach zu viele«, fluchte ich und schlug verzweifelt mit meinem Schwert auf die um mich herum windenden Tentakel ein. Vergebens. Einen unvorsichtigen Moment später hatte mich eine erwischt. Eingewickelt wie ein Gürkchen in einem Heringsröllchen schleuderte mich der Krake hin und her. Durch seine feste Umklammerung der Ohnmacht nahe spürte ich noch, wie er seinen Griff plötzlich löste und ich in hohem Bogen durch Raum und Zeit flog …
Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich auf einer einsamen Karibikinsel im Mündungsgebiet des Orinoko wieder: Gefesselt und paniert in einem Kochtopf von Kannibalen.
[…]
52,38°Süd, 48,06°Ost: Auf dem Weg in die Antarktis,
im Juni 2009
Stephan Thiemonds©
„Querweltein Unterwegs – Seemannsgarn oder Sabotage in der Antarktis“
Seemannsgarn oder Sabotage in der Antarktis
1. Kapitel
Einleitung
Krill ist ein norwegisches Wort und bedeutet Walnahrung. Doch nicht nur für Wale stellt Krill den Mittelpunkt ihrer Nahrungsquelle dar. Auch für Robben, Eisfische und Tintenfische, für den antarktischen Zahnfisch und den Bändereisfisch, für Kalmare, Krebse, Pinguine, Albatrosse und andere Seevögel. Kurzum: Nahezu alles, was die Antarktis bevölkert, ernährt sich direkt oder indirekt vom Krill, der somit als Universalversorger für die dort lebenden Tiere eine zentrale Schlüsselstellung einnimmt.
Groben Schätzungen zufolge liegt die Biomasse des antarktischen Krills bei 500 Millionen Tonnen. Von dieser gewaltigen Menge – die Krill zur quantitativ erfolgreichsten, mehrzelligen Tierart auf unserem Planeten macht – verzehren allein die Wale pro Jahr 43 Millionen Tonnen. Drei Mal so viel, 130 Millionen Tonnen, lassen sich die Robben schmecken. 100 Millionen Tonnen vertilgen die Tintenfische, 20 Millionen Tonnen stehen auf dem Speiseplan der Fische und weitere 15 Millionen Tonnen picken die Vögel von der Wasseroberfläche. Demnach bleiben rund 30 Prozent der gesamten Krillpopulation übrig, deren Aufgabe es ist, für Nachwuchs zu sorgen: Zum Überleben ihrer eigenen Art und damit keines der anderen Tiere im kommenden Jahr verhungern muss. Eine in sich funktionierende heile Welt.
Doch wie so häufig, wenn’s was zu holen gibt, taucht irgendwann der Mensch auf, der mehr und mehr den kommerziellen Wert des Krills in Form der darin enthaltenen Omega-3– und Omega-6-Fettsäuren für sich entdeckt. Laut der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, beträgt der Fischereianteil am antarktischen Krill 100.000 Tonnen pro Jahr. Was im Vergleich zu dem, was die Tierwelt sich hinter die Kiemen haut, gerade mal einer mageren Vorspeise entspricht. Doch aus der Erfahrung unseres menschlichen, unersättlichen Profithungers wird uns dieser Appetitanreger niemals satt machen.
Aus Furcht vor einem unkontrollierten Festschmaus wird seit Jahren auf internationaler Ebene darüber nachgedacht, ob und wenn ja, ab welchem Umfang der kommerzielle Krillfang negative und nachhaltige Einflüsse auf das sensible maritime Ökosystem mit sich bringen könnte. Nahrungsalternativen stehen, so hat man festgestellt, den in der Antarktis lebenden Tieren so gut wie keine zur Verfügung.
Der größte Zusammenschluss, dem neben Deutschland noch weitere 22 Länder angehören, ist das Convention on the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, kurz das CCAMLR. Das im Jahre 1982 ins Leben gerufene Abkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis hat sich zum Ziel gesetzt, all jenen auf die Finger zu schauen (und im Notfall auch zu hauen), die am Krillgeschäft beteiligt sind.
Vermutlich weil ich mir all dies in den vergangenen Tagen angelesen hatte und ich an Bord eines Krillfangschiffes mit Kurs auf die Antarktis war, fragte ich mich, ob auch unser norwegischer Kunde und mein Chef ein schlechtes Gewissen haben müssen. Schließlich gehört dem einen das Schiff, der andere hat die Krilltrockner gebaut und geliefert.
Als ich so auf den in friedlicher Stille daliegenden Ozean sah, über Ethik und Gewissensbisse sinnierte und ab und an einen Blick auf die wie Kathedralen wirkenden Eisberge warf, entdeckte ich auf einer der am Schiff vorbeitreibenden Eisschollen ein plüschig weißes Robbenbaby, das mich aus tränenfeuchten schwarzen Kulleraugen vorwurfsvoll ansah.
[…]
Noch bevor die Wintersonne über den Horizont spähte, hatte die Fangcrew das Netz ausgelassen. Was aber nicht bedeutet, dass die Männer Frühaufsteher waren. Zu dieser Jahreszeit, im Juni, lässt sich die Wintersonne südlich des 60. Breitengrades erst gegen halb elf blicken.Zwei Stunden hatte die Juvel das Netz hinter sich hergezogen. Nun lagerte der Fang in zwei Edelstahltanks im Bauch des Schiffes. Der Countdown lief. Innerhalb der nächsten vier Stunden mussten dreißig Tonnen Krill zu Pulver und Öl verarbeitet werden.
2. Kapitel
Technische Probleme
Soweit schien alles bereit. Das Steuer- und Kontrollprogramm der Anlage war getestet, die Vorbereitungen für den Produktionsstart liefen an. Nun musste sich die millionenschwere Investition in der Praxis bewähren. Auch wenn es niemand aussprach, die Lage war angespannt. Auf sämtlichen Maschinendecks ging’s zu wie bei einem Torpedoalarm.
Dennoch liefen die Vorbereitungen in unserem Anlagenteil problemlos. Der Dampfkessel machte kontinuierlich Überdruck, den das Regelventil auf die benötigte Menge reduzierte. Und während die Temperatur in den Heizschüssen allmählich anstieg und der Rotor sich bereits drehte, wollten wir den für den Prozess so wichtigen Kühlwasserkreislauf in Betrieb nehmen.
Eigentlich bin ich ja kein Napoleon-Typ, der sich zur Selbstkrönung seiner Heldentaten den Helm quer aufsetzt, die flache Hand zwischen die Knopfleiste seiner blauen Arbeitsjacke steckt und mit künstlich geblähter Brust auf den Putz haut. Aber ich denke, wenn man zu Gange ist den größten Kühlwasserkreislauf unseres Planeten anzuzapfen, ist dies schon eine Randbemerkung wert. Lassen Sie mich erklären. Und ein bisschen auf den Putz hauen.
Um sich in unsere einzigartige Kühlwassersituation hineinversetzen zu können, mussten wir umdenken. Während bei Produktionsanlagen an Land das Wasser eines offenen Kühlsystems aus einem separaten Becken in den Kreislauf der Anlage gepumpt und anschließend wieder dem Becken zugeführt wird, befanden wir uns nun an Bord eines Schiffes auf dem antarktischen Eismeer, wo es kein separates Wasserbecken gab. Was aber, wenn man sich draußen umschaute, nicht weiter tragisch war, – umgeben von einem zwanzig Millionen Quadratkilometer großen Kühlwasser-Ozean. Wir schwammen in dem Zeugs. Von daher hatten wir keinerlei Befürchtungen, dass uns in den kommenden Wochen das Kühlwasser ausgehen würde. Vielmehr hatten wir Angst, darin zu ersaufen.
Wie groß unsere Bedenken tatsächlich waren merkten wir, als wir uns den entsprechenden Nachruf in unserer einmal im Jahr erscheinenden Firmenzeitschrift SMS-Aktuell ausmalten:
»Die Belegschaft der Buss-SMS-Canzler GmbH trauert um zwei seiner Mitarbeiter, die während einer Inbetriebnahme in ihrem eigenen Kühlwasser ertranken«.
Wir hörten, wie die lieben Kollegen bei unserem letzten Geleit hinter vorgehaltener Hand tuschelten, »So dämlich kann doch eigentlich gar keiner sein«. Ein anderer Schlaumeier meinte, »Ich hab’s euch immer schon gesagt. Früher oder später musste den beiden so etwas passieren«.
Zumindest ein Kollege versuchte die Ursache unseres Ablebens beim Leichenschmaus zu ergründen: »Jetzt muss mir doch mal einer verraten, wie man so etwas Beklopptes überhaupt anstellt?«, fragte er die gesellige Trauerrunde, biss in sein mit zwei Gürkchenscheiben und einem Petersilienzweig dekorierten Käsebrötchen und fügte kopfschüttelnd mit vollem Mund an, »Him eijenen Hühlwaffer ethunken!«
Trost spendete uns der Gedanke, dass wir, bezogen auf unseren einmaligen Einsatzort, das Eismeer der Antarktis, auf dem Zenit unseres beruflichen Reiselebens das Zeitliche segnen würden. Helden, die dieses Schicksal trifft, können nicht mehr durch späteres Verhalten in Ungnade fallen. Als Entschuldigung für unser berufliches Versagen würden wir beim Untergehen unserem Chef den Song von Human League vorsingen, »I’am only human, born to make mistake …«.
Abgesehen von unserer durchgegangenen Phantasie und dem dummen Geschwätz unserer Kollegen hatten wir, was Kühlwasser anging, eine selten komfortable Ausgangslage. Zudem war es mit einer Temperatur von minus 1,0° Celsius ideal für unsere Anwendung. Und obendrein kostenlos.
Weil ein Großteil der Produktionsanlage im Bauch der Juvel installiert ist, also unterhalb der Wasserlinie, war es relativ leicht, an das Kühlwasser heranzukommen. Wir benötigten lediglich das, was man sich, fern jeder Küste, normalerweise nicht wünscht: ein Loch im Schiffsrumpf. Durchmesser 500 Millimeter. Mit einem hindurch gesteckten Ansaugrohr. Und eine seewasserbeständige Pumpe.
Zu unserer Freude waren diese drei Voraussetzungen gegeben. Selbst die kritische Schnittstelle zwischen Ansaugrohr und Schiffsrumpf schien dicht zu sein, was unsere Chancen, im eigenen Kühlwasser zu ertrinken, um einiges minimierte.
Um grob zu verstehen wie dieser gewaltige Kühlwasserkreislauf funktioniert, muss man zwei grundlegende Dinge wissen. Zum einen, dass ohne Berücksichtigung von Wind, den Gezeiten und der Erdrotation, der Meeresspiegel überall gleich hoch ist. Laienhaft gesprochen und als Globus vorgestellt, glatt wie eine Weihnachtskugel. Zum anderen, dass die Weltmeere nicht, trotz ihrer unterschiedlichen Namen, wie die Swimmingpools einer fünf Sterne Hotelanlage voneinander abgetrennt sind. Nahtlos fließt das Wasser vom Nordpolarmeer, vom Atlantischen, Indischen, Pazifischen und Antarktischen Ozean ineinander über.
Dadurch entsteht, wie überall im Leben, wo Ungleiches aufeinander trifft, Bewegung. Beispielsweise, wenn sich über unseren Köpfen ein Gewitter zusammenbraut; wenn feuchtwarme Luftmassen in höhere Atmosphären steigen, sich zu einer großen Wolke vereinen und mit kalten Luftmassen zusammenkrachen.
Abgesehen von Blitz und Donner ist auch an den Übergängen der Weltmeere ordentlich was los, weil sich dort Wasser unterschiedlicher Temperatur und Salzkonzentration vermischt. Aufgrund seiner höheren Dichte fällt das kalte Wasser nach unten. Das warme steigt hoch. Ein Kreislauf globalen Ausmaßes kommt in Gang.
Initiiert wird er im Gebiet zwischen Grönland, Island und Norwegen: im Nordatlantik, wo kaltes, salzreiches Meerwasser absinkt. Eine kalte Tiefenströmung entsteht, die bis hinunter zum Südatlantik fließt. Dort trifft sie auf das ebenso kalte und salzhaltige Wasser des Zirkumpolarstroms, der um die Antarktis herum im Kreis fließt. Dieser vereint das kalte Wasser des Nordatlantiks mit dem wärmeren des Indischen Ozeans und dem des Pazifiks. Durch eine von Strömungen, Verwirbelungen und Wind angetriebene Vermischung steigt das warme Wasser auf und erwärmt sich, mittlerweile im äquatorialen Bereich angekommen, durch die Sonneneinstrahlung noch mehr. Eine warme Oberflächenströmung ist entstanden, die vom Pazifik aus den weiten Rückweg antritt. Zwischen Indonesien und der Nordwestküste Australiens vorbei, fließt sie ums Kap der Guten Hoffnung in die Golfregion Mittelamerikas. Von dort bringt sie der gleichnamige Golfstrom – dem wir Europäer das milde Klima zu verdanken haben – zurück in den Nordatlantik. Die Oberflächenströmung gibt einen Großteil ihrer Wärme in die Atmosphäre ab – eben jene Wohlfühlwärme, die der Wind zu uns nach Europa weht – das kalte und salzhaltige Wasser sinkt ab, womit sich der erdumspannende Kreislauf schließt.
[…]
Bei einem derart gigantischen Wasserhaushalt dürfte es aus verfahrenstechnischer Sicht kaum etwas ausmachen, wenn wir ein paar Tropfen davon abzwacken. Um genau zu sein, 160 Kubikmeter pro Stunde, die wir, nachdem sie einen Teil unserer Maschine gekühlt haben, selbstverständlich zurück in den Ozean pumpen. Womit sich unser Mini-Kühlwasserkreislauf schließt und wir wieder bei der Inbetriebnahme im Unterdeck der Juvel wären.
[…]
Wir waren an einem Punkt angekommen, an dem wir glaubten, dass unser Problem nicht unbedingt technisch erklärbar sein muss. Selbst die verrücktesten Gedankenexperimente sahen wir als willkommenen Lösungsansatz. Um unsere verbleibende Zeit effektiver zu nutzen, führten wir unsere Überlegungen in zwei unterschiedliche Richtungen fort. Während mein Kollege weiter nach einer technischen Ursache suchen sollte, dachte ich über außertechnische Phänomene nach. Auch wenn sie keiner rationalen Grundlage entsprechen würden.
Als allererstes stellte ich mir die Frage, wer einen direkten Vorteil davon hätte, wenn wir keinen Krill verarbeiten könnten? Klar, die Konkurrenz natürlich! Die Saga Sea aus Norwegen, die Dalmor II aus Polen, die Fukuai Maru aus Japan und die Dong San aus Südkorea. Diese Trawler waren nämlich auch auf Krillfang; im selben Fanggebiet wie wir mit der Juvel. Sind zu denen etwa Informationen von unserem Top-Secret-Pilotprojekt durchgedrungen? Ziel unseres Kunden ist, mit einer neuen Krill-Verarbeitungstechnologie den Markt zu revolutionieren, – was ganz sicher negative Auswirkungen auf die Geschäfte seiner Mitbewerber haben wird.
Oder hatte die gefürchtete Krillmafia aus Hongkong ihre schmutzigen Finger im Spiel, die mit chinesischen Mini-U-Booten Sabotage betreiben? Genau, das war’s!, schoss es mir brütendheiß durch den Kopf. Beim Krillgeschäft geht es um etliche Milliarden Dollar. Vor allem aber um die überaus begehrten Fanglizenzen, durch die der Besitzer ungeheure Macht auf den internationalen Märkten erlangt: Durch die Licence to Krill!
Ich glaubte eine Maschinenpistolensalve rattern zu hören, gefolgt von einem Adrenalinschub der mich glauben ließ, SMS-Geheimagent 007 zu sein; wie er im schwarzen Smoking mit der heißblütigen Pam Bouvier vor dem miesen Sanchez und seinen Leuten flüchtet. Dabei sang James B., alias Timothy D. also Stephan T. den von Narada W. komponierten und produzierten, allerdings im Text leicht abgeänderten Titelsong des gleichnamigen Kinofilms.
»I got a license to Krill.
And you know I’am going straight for your heart. (Chor: License to Krill)
Ooooh, oh-hooo«
[…] [Youtube Video: Licence to Kill Theme Song – James Bond]
60,12°Süd, 46,37°Ost: South Orkney Islands, Antarktis, im Juli 2009
Stephan Thiemonds©
„Querweltein Unterwegs – Seemannsgarn oder Sabotage in der Antarktis“
Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen
»Jetzt aber mal Butter bei de Fische, Stephan, wie stark hat’s denn nun wirklich geschaukelt und wie hoch waren die Wellen tatsächlich?«
Weil ich geahnt habe, dass Sie mir früher oder später diese Frage stellen, habe ich mir überlegt, welch’ geistreiche Antwort ich Ihnen darauf geben könnte.
»Mach’s nicht so kompliziert und sag’ einfach die Wahrheit.«
Ja eben, weil ich bei der Realität bleiben will, brachten mich meine Überlegungen zu dem Schluss, dass es sich auch bei der Einschätzung von Naturgewalten draußen auf dem Meer so verhält, wie bei vielen Dingen im Leben: Wie hoch und wie heftig es war, liegt einzig und allein im Ermessen des Betrachters. In dem Fall bei mir.
Entscheidend ist, welchen Maßstab ich bei meiner Berichterstattung anlege. Vergleiche ich den Seegang mit den Erfahrungen eines alten Seemannes, der die ersten zwanzig Jahre seines Berufslebens den Nordatlantik durchkreuzt, die nächsten zwanzig die Nordwest-Passage befahren, bis zu seiner Pensionierung Kap Horn umschifft und in seiner Freizeit auf einem Floß den Colorado River bei Hochwasser bezwungen hat, dann war meine Seereise zur Antarktis eine Sommersonntägliche Kahnfahrt auf dem Toten Meer. Vergleiche ich hingegen meine Antarktisreise mit der gerade erwähnten Kahnfahrt, so war ich im Vorhof zu Neptuns Hölle. Sie verstehen meinen Zwiespalt mit der Wahrheit.
Um Ihre Frage gewissenhaft zu beantworten, wird mir nichts anderes übrig bleiben, Ihnen statt des inhaltsleeren Einzeilers, »Es herrschte ein tosender Sturm mit unglaublich hohen Wellen«, die ganze Geschichte zu erzählen. Mit all ihren Zusammenhängen.
[…]
Womit wir bei der Juvel angelangt wären. Und bei der Beantwortung der eingangs aufgekommenen Frage, warum gerade dieses Schiff einen Sonderstatus in punkto Schweißtechnik einnimmt. Dazu müssen wir kurz zurück ins Jahr 2003.
Knapp drei Jahre nach Kiellegung läuft im Auftrag der Norwegisch-Neuseeländischen Eignergruppe Sealord in Norwegen ein auf den Namen Paerangi getauftes Schiff vom Stapel. Das Einsatzgebiet des 71,3 Meter langen Fang- und Fabrikschiffes sind die Seehecht-Fanggründe rund um Neuseeland.
Fünf Jahre später: Am 31. März 2008 läuft im Auftrag von Emerald Fisheries Alesund, Norwegen, bei der MWB Motorenwerke Bremerhaven AG ein auf den Namen Juvel getauftes Schiff vom Stapel. Die Verwendung des 99,5 Meter langen Trawlers ist der Einsatz als Krillfänger in der Antarktis. Was zusammengefasst bedeutet: Aus der siebzig Meter kurzen Paerangi wurde die neunundneunzig Meter lange Juvel.
Etliche Millionen Euro kostete diese Totaloperation, wofür die Paerangi aus ihrem Element in das Trockendock 5 des Bremerhavener Schiffs- und Schiffsmotorinstandsetzungsbetriebs gehievt wurde. Dann rückte ihr ein mit Acetylen- und Sauerstoffschneidbrennern bewaffneter Trupp zu Leibe. Nur ein einziger Schnitt war nötig. Mittendurch. –
Nach nur 24 Stunden hatten die Männer mit den Feuersägen ihre Arbeit erledigt. Als das getrennte Bug- und das Heckteil 40 Meter auseinander geschoben waren, bugsierte in die entstandene Lücke der Schwimmkran Enak zwei vorgefertigte, insgesamt 28,2 Meter lange Doppelbodenrumpfstücke.
Durch die an ihren Kopfenden offenen Stockwerke wurden die für den Krillverarbeitungsprozess benötigten Bioreaktoren, Rührwerke, Pumpen, Zentrifugen, Tanks, Transportbänder, Wärmetauscher und die beiden wunderschönen SMS–Trockner eingebaut. Nachdem 1.500 fern zu betätigende Ventile und 40 Schaltschränke installiert, 4,8 Kilometer Edelstahlrohrleitungen nach Lebensmitteltechnologie-Standard und 50 Kilometer Elektrokabel verlegt waren, wurden die Schiffsteile zusammengerückt, geheftet und rundum verschweißt. Die für den Umbau erforderlichen 800 Tonnen Stahl waren innerhalb von nur 200 Werktagen verbaut.
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Dann wurden die Leinen gekappt und die Stützbalken umgestoßen. Unter den stolzen Blicken der MWB-Werftarbeiter rumpelte die Juvel aus ihrem Bremerhavener Trockendock. Den Schwung ausnutzend, schipperte sie die Weser hinauf zur Nordsee, nach einer scharfen Linkskurve über den Atlantik den Globus hinunter zur Äquatortaufe und direktemang nach Montevideo, wo mein Kollege und ich an Bord gingen und unsere Kajüte bezogen.
Diese befand sich im Vorderschiff, wo gewöhnlich, wie ich später erfuhr, die Meuterer einquartiert werden, weil’s dort bei Seegang am wildesten schaukelt. Ganz vorn, im Übergang zum spitz zulaufenden Bug; dort, wo bei Schiffen die Gischt emporschießt, wenn der vordere Rumpfbereich in die auftürmenden Wellenberge eintaucht.
Dies erklärt, warum unsere Kajüte zwar ein Bullauge hatte, man dieses allerdings, im Gegensatz zu den Bullaugen der Kajüten weiter hinten im Schiff, nicht öffnen konnte. Stattdessen hing an einem Scharnier ein gusseiserner Deckel mit eingelegter Gummidichtung und Schraubknebel, mit dem man im Falle einer zerborstenen Scheibe das Bullauge abdichten konnte. Theoretisch war unsere Kajüte von der Seeluftumwehten Außenwelt abgeschottet. Praktisch auch. Und zwar hermetisch.
Daher sahen wir uns gezwungen das oberste Gesetz, das unser friedliches Zusammenleben für die kommenden sechs Wochen auf 6,45 m² garantieren sollte, zu formulieren: Furzen verboten!
Weil aber Männer manchmal furzen müssen (Frauen zwar auch, aber die reden gewöhnlich nicht darüber) vereinbarten wir drei Ausweichmöglichkeiten. Numero Uno: vor unserer Kabinentüre, auf dem langen und meist menschenleeren Gang, wenn man dem plötzlich aufkommenden Druck nicht länger standhalten konnte. Numero zwei: notfalls auch, allerdings leise, in der Messe beim Essen, wo man mit unschuldigem Gesichtsausdruck die aufgekommene Geruchsbelästigung von sich weisen konnte. Numero drei war die kollegialste, allerdings auch die windigste Alternative. An Deck, bei den Möwen.
Auf die Notwendigkeit eines zweiten Gesetzes kamen wir, als die Juvel den ruhigen Hafen von Montevideo verlassen hatte. Es war bei unserer ersten Nasszellen-Reinigungsaktion. Anhand verräterischer, auf Boden- und Wandfliesen gesprenkelter gelblicher Spritzer mussten wir feststellen, dass unsere geglaubte Treffsicherheit nur auf ruhende Toilettenschüsseln zutrifft. Von daher: Setzen. Immer? Immer!
Meinem unter chronischer Höhenangst leidenden Kollegen zum Gefallen, nistete ich mich in der oberen Koje unseres Etagenbettes ein. Dabei wurde mir klar, warum die Wortherkunft für solch eine Schlafstätte von dem lateinischen Begriff Cavea = Koje = Verschlag, Käfig abgewandelt wurde. Bezüglich Platzangebot und Komfort wäre eigentlich alles gesagt. Jedoch erinnerte mich mein Langzeitgedächtnis daran, dass die Liegefläche eines Jugendherbergs-Etagenbettes beinah doppelt so breit und lang war, wie die meiner Koje. Was ich schon ziemlich ungerecht fand. Andererseits, im Vergleich zum üblichen Nachtlager auf alten Segelschiffen, einer Hängematte, war damals eine Koje ein ungeheurer Komfort. Wenn dieser ausnahmsweise gegeben war, musste ein und dieselbe Koje von mehreren verschwitzten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit regelmäßig onanierenden Seemännern im Schichtwechsel reihum benutzt werden. Ich sollte also still und zufrieden sein.
Der ausschlaggebende Unterschied zwischen meiner Koje und einem Jugendherbergsetagenbett bekam ich am ersten Morgen zu spüren. Und das, obwohl ich noch gar nicht richtig wach war. Pünktlich um sechs Uhr dreißig klingelte unserer Steh-auf-und-sei-dankbar-dass-du-es-kannst-Wecker.
Ich schreckte in gewohnter Klappmessermanier hoch – wobei ich gerade nach der ersten Nacht in einem fremden Bett eine beachtliche Geschwindigkeit erreiche – und knallte mit voller Wucht gegen die ungewöhnlich tief über meinem Kopfkissen eingeschweißte Kajütendecke. Ich prallte zurück und schlief noch ein Weilchen.
Als ich aus dem ohnmachtähnlichen Zustand erwachte sah ich, erst verschwommen, dann allmählich aufklarend, eine zwischen meiner Stirn und Kajütendecke gehaltene Skala eines Roll-Bandmaßes. »39,5 Zentimeter«, hörte ich meinen Kollegen sagen, der mir aus einer weit entfernt klingenden Scheinwelt seine Anerkennung zusprach. »Alle Achtung, Kollege. Das nenn’ ich einen wahren Widder. Nicht nur mit dem Kopf durch die Wand, auch durch die Decke!«
Er löste den Klemmschieber, worauf die Skala mit diesem bandmaßtypischen Cchchiirrrrrr-tak-Geräusch ins Gehäuse zurücksauste. Zum Abschluss seiner Unfallanalyse drückte er mit seinem Daumen auf die sich gerade aus meiner Stirn wölbende Delle und fragte: »Tut das weh?«
Bevor ich ihm eine nonverbale Antwort geben konnte, zückte mein technisch versierter Kollege, der immer auf Zack ist, wenn es bei der SMS was zu verbessern gibt, ein Daunenkissen. Dieses befestigte er mit breitem Klebeband sorgfältig an der Kajütendecke. Ausgeklügelt positioniert nach dem Billard-Prinzip: »Einschlagwinkel gleich Ausschlagwinkel«. Und unter Berücksichtigung meines persönlichen Aufwach-Hochklappwinkels, den ich für ihn noch einmal in Zeitlupe simulieren musste. »Zur Vorbeugung auf die noch bevorstehenden Nächte«, meinte er mit fürsorglichem Ton. Und ich glaube, er meinte es ehrlich.
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Sie kennen das sicherlich aus ähnlichen Situationen. Dann, wenn man von einer düsteren Stille umgeben ist, in die man kaum atmend hineinhorcht; wenn jedes Geräusch, jede Bewegung Rätsel aufwirft und einen nicht zur Ruhe kommen lässt, weil automatisch das Unterbewusstsein versucht zu ergründen, zu begründen, zu begreifen – um einen irgendwann beruhigt einschlafen zu lassen.
Allein vom Schaukeln her war das Einschlafen kein Problem. Vielmehr förderte es den erholsamen Schlaf, nachdem sich mein Körper wieder an diese seit Babyzeiten nicht mehr erlebte Einschlafbewegung gewöhnt hatte. Er musste sich daran gewöhnen. Was er auch tat. Sogar ziemlich rasch. Ihm blieb schließlich nichts anderes übrig. Denn die Juvel schaukelte ständig. Wie ein Spielball der Wellen. Hin und her, hin und her. Von Steuerbord nach Backbord, von Backbord nach Steuerbord. Mal mehr, mal weniger. Und entsprechend rollte ich in meiner Koje. Hin und her. Mal mehr, mal weniger. Jedoch stetig.
Es gibt nicht viele Situationen während all meiner bisherigen Reisen, wo ich solch eine Nähe zu Mutter Natur über einen derart langen Zeitraum ununterbrochen gespürt habe, wie in jenen Nächten auf dem Antarktischen Ozean.
Und während ich mit der Juvel hin- und herschaukelte – auf der einen Seite verhinderte die Kajütenwand und auf der anderen ein hochkant angeschraubtes Brett, dass ich aus meiner Koje fiel – hörte ich, wie das Holz des Etagenbettes knarzte und knirschte. Wie unsere gesamte Kajüteneinrichtung knackte und krachte. Wie der Stahlrumpf keuchte und ächzte. Wie das eigentlich steifträge Material arbeitete.
Daneben glaubte ich zu hören, wie Kapitän Kjetil allabendlich übers Deck stelzte, wobei sein aus Walknochen geschnitztes Bein bei jedem Schritt auf den Planken knockte; als wäre ein altersschwacher Specht zugange. Tock – Tock – Tock –. Jeder an Bord wusste, was dem Kapitän bei seinen nächtlichen Rundgängen durch den wahnsinnigen Kopf ging: Seine erbitterte Jagd nach dem Weißen Krill, der ihm vor Jahren sein Bein abgerissen hatte.
Irgendwann schlief ich dann mit einem ur-natürlichen Gefühl von tiefer Zufriedenheit und Heimeligkeit ein, weil geschaukelt zu werden, lassen wir doch mal ehrlich sein, ebenso was Gebärmutterhaftes hat, wie Warm-Duschen.
In jenen Nächten, in denen höherer Wellengang die Einschlafphase hinauszögerte, stellte ich mir vor, ich stünde Seite an Seite mit Kapitän Kjetil auf dem sturmumpeitschten Achterdeck, wobei die an der Bordwand hochschießende Gischt über uns hereinbricht. Fürwahr, kein Wetter für windige Charaktere.
Während er an der Reling stehend, sein Walbein zum sichereren Halt ins eigens dafür vorgesehene Zapfenloch gesteckt hatte, aufs Meer starrte und brüllte: »Da vorn, er bläst! Weißer Krill Backbord voraus!«, stand ich, mich breitbeinig gegen den Sturm stemmend, hinter dem Steuerrad. Mit aller Kraft versuchend, das Schiff auf Kurs zu halten. Diesmal durfte uns der Weiße Krill nicht entkommen! Adrenalin schoss mir durch die Adern. Entfachte in mir das aufkommende Gefühl eines selbstbewussten Mannes, der bislang noch jedes Abenteuer singend bestanden hat:
»Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,
der eiskalten Winde, rauaues Gesicht.
Wir sind schon der Meere so viele gezogen,
und dennoch sank unsre Faaahne nicht.«
Youtube Video: Heino – Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen
Spätestens bei dem lang gezogenen »a« der unsinkbaren Fahne konnte sich mein bis jetzt reglos unter mir liegender Kollege nicht mehr zurückhalten. Mit über und über tätowiertem Körper sah ich ihn als kannibalischen Südseeinsulaner in angriffsbereiter Position vorn an der Bugspitze stehen. Und während er darauf wartete, seine wurfbereite Harpune dem Weißen Krill beim nächsten Auftauchen in den verdammten Leib zu rammen, stimmte er im Liedtext mit ein:
»Hei-o, hei-o, heio heio heio ho, heio heio ho heio.«
Wir sangen wie zwei Jungs auf ihrer ersten unbeaufsichtigten Kajaktour. Sogar Kapitän Kjetil wurde mitgerissen. Nicht vom Weißen Krill unter Wasser. Von unserem anregenden Gesang. Anfangs noch wiegte er zögerlich, beinahe so als ob es ihm peinlich wäre Emotionen zu zeigen, im Liedtakt von einem Bein aufs andere Walbein und brummelte dabei. Es brauchte eine Weile, bis sein vereistes Gemüt aufgetaut war; bis er beim Refrain mit einstimmte. Und nach ein paar gescheiterten Versuchen schafften wir es sogar, dreistimmig zu singen.
»Wir treiben die Beute mit fliegenden Segeln,
wir jagen sie weit auf das ehendlose Meer.
Wir stürzen an Deck, und wir kämpfen wie Löwen,
hei, uns ist der Sieg, viiiel Feinde, viel Ehr’
(Und jetzt alle!)
Hei-o, hei-o, heio heio heio ho, heio heio ho heio«
Es war einfach Klasse! Wie damals zu alten Pfadfinderzeiten. Nur dass wir nicht als Wölflinge in Kakihemden und orangefarbenen Halstüchern mit durchgestecktem Lederknoten auf Baumstammstümpfen um ein loderndes Lagerfeuer saßen, dessen knisternder Funkenflug zu den hoch über uns leuchtenden Sternen aufstieg. Wir waren an Bord eines richtigen großen Schiffes auf dem Südpolarmeer. Mit unserem Gesang waren keine Jungenträume verbunden. Diesmal war es Realität!
Und irgendwann fielen uns, müde von der kräftezehrenden Jagd nach dem Weißen Krill die Augen zu.
So begannen alle unsere Nächte an Bord. Und alle endeten sie, pünktlich um sechs Uhr dreißig, mit der aus unserem »Steh-auf-und-sei-dankbar-dass-du-es-kannst-Wecker« erklingenden Kirchenmelodie, die durch Cat Stevens’ hinzukomponiertem Gesang weltberühmt wurde.
»Morning has broken, like the first morning,
Blackbird has spoken, like the first bird,
praise for them singing, praise for the morning,
praise for them springing, fresh from the world.«
Wie gesagt, so begannen alle unsere Nächte an Bord. Alle. Bis auf eine!
[…] [Youtube Video: Cat Stevens – Morning has broken ]
Während einer nicht endenden antarktischen Sturmnacht, im Juni 2009
Stephan Thiemonds©
„Querweltein Unterwegs – Seemannsgarn oder Sabotage in der Antarktis“