„Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.“

– Konfuzius (551 v. Chr. – 479 v. Chr.) –

Buchcover Querweltein Unterwegs - Schrauben, Spesen und Chinesen

Querweltein Unterwegs – Schrauben, Spesen und Chinesen

Erschienen 2005. In 50 Kurzgeschichten erzählt der Autor von seinen beruflichen Reisen zur Volksrepublik China, nach Hongkong, auf die Philippinen, in die Türkei, nach England, Schweden und Deutschland. Darüber hinaus enthält es die Kapitel Über den Wolken oder kurz davor und Querweltein Unterwegs in fremden (Hotel-)Betten.

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Die Covers der Bände 2, 3 und 4 wurden auf Ideen des Autors von der Künstlerin und Gemälderestauratorin Agnieszka Krieger gestaltet. Bände 2, und 3 zeigen die Industriewelt auf naive Art, mit einer betont einfachen, unbekümmerten Motivwahl, bewusst polarisierend zum eher harten Industriealltag.

Band 2 zeigt eine Weltkugel, deren Rand rundum als Zahnrad ausgeführt ist, über dessen Flanken ein behelmter Monteur mit Werkzeugkiste und Schraubenschlüssel balanciert; in leicht nach hinten gekippter Körperhaltung, ständig der Gefahr ausgesetzt, rücklings herunterzufallen, wenn er der vorgegebenen Antriebsgeschwindigkeit des „Welten-Zahnrades“ nicht mithalten kann. Dieses ist über kleinere Zahnräder und einer Kette mit einer Fabrik verbunden, aus deren Schlot es raucht. Diese steht als Sinnbild für die moderne Industriewelt: wie diese zum Motor der Welt wurde, dessen ineinandergreifendes Zahnräderwerk auch uns Menschen mitantreibt und mitunter unsere Schrittgeschwindigkeit bestimmt.

Seit der Rückkehr von seiner mehrmonatigen Radreise – die ihn bis ans andere Ende der Welt und wieder zurück führte – ist Stephan Thiemonds nunmehr für seinen Chef Querweltein unterwegs.
Wie schon in seinem Buch, Querweltein – eine Radreise voller Gegensätze, nimmt der gelernte Kupferschmied auch diesmal den Leser hautnah mit hinaus in die Welt. Seine lebendigen, informativen, ironischen, anregenden und humorvollen Kurzgeschichten beginnen, wie die meisten seiner Reisen, Über den Wolken, oder kurz davor. Von dort aus führen sie nach China und Hongkong, auf die Philippinen und zur Türkei, nach England und Schweden. Doch ganz gleich in welchem Land er gerade unterwegs ist: Bis ihn sein Chef wieder zurück nach Deutschland holt, werden alle (Arbeits-)Tage, beinahe so wie dieses Buch, Querweltein in fremden (Hotel-)Betten enden.

Anstelle eines (normalen) Vorwortes

Über den Wolken – oder kurz davor

  • Über den Wolken …
  • Im siebten Himmel
  • We wish you a pleasure flight
  • Simsalabim – Sesam öffne dich!

China

  • Wie einst Marco Polo
  • Aufgepasst – die Konkurrenz schläft nicht!
  • Eine saubere Sache
  • Mr. Smith und die Sache mit seiner Erfahrung
  • Gut gebrüllt, Tiger!
  • »Take me home, country roads …«
  • Schichtwechsel
  • Same same, but different!
  • Tu, was du nicht lassen kannst
  • The Wall
  • Die wohlverdiente Ruhe-(störung)
  • Hauruck, Hauruck …
  • Hot Pot
  • Wunschprogramm
  • Alle meine Entchen
  • Wo sind all die Indianer hin?
  • Nur fliegen ist schöner
  • Mit Stäbchen essen …
  • »Erst wenn der letzte Baum gefällt …
  • Safety first

China – Hongkong

  • Inspektor Gadget

Philippinen

  • Die Gedanken verreisen
  • Verkehrserziehung auf Philippinisch
  • Oh du schöne, schreckliche Welt
  • Goodwill – so Gott will
  • The story of the lost hand

Türkei

  • Happy Holiday!
  • Schade, nur eine halbe Sache
  • Von draus vom Walde komm ich her …
  • ü … ü … ü …

England

  • Der Mensch – das Gewohnheitstier
  • Eine Affengeile Story

Schweden

  • Alter Schwede!
  • Irren ist Menschlich

Querweltein, unterwegs in fremden (Hotel-)Betten

  • So wie man sich bettet, so liegt man
  • Platzangst – vor lauter Angst um den Platz?
  • Dinner for one
  • First Night in Paris

Zurück in Deutschland

  • Erkennungs-Kennzeichen
  • Die große Hilfe für den kleinen Mann
  • Wir sind Papst!
  • Griaß God
  • Viva il Papa
  • Maria Hilf!
  • Stellenausschreibung

Ende

  • Schluss jetzt! Genug der vielen Worte

ISBN 978-3-937439-27-3   Paperback,   220 Seiten,   11,00€

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Über den Wolken …

muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …« [Youtube Video: Reinhard Mey – Über den Wolken],

sang Reinhard Mey Mitte der siebziger Jahre. So beflügelnd die erste Refrainzeile seines bekannten Fliegerliedes von grenzenloser Freiheit über den Wolken auch klingen mag, so kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihm diese Gedanken während eines Langstreckenfluges kamen, bei dem er eingepfercht in einem Sitz der Economy-Class ausharrte. Denn schon in der nächsten Zeile behauptet er über den Trip in die Wolken:

»… alle Ängste alle Sorgen sagt man, blieben darunter verborgen …«.

Was sicherlich so sein mag, wenn man denn seine Beine der Länge nach ausstrecken kann – und wo demzufolge in der Economy-Class die Sorgen erst anfangen!

Beim letzten Drittel des Refrains landen meine Gedanken unweigerlich bei meinem Chef, der seinen Teil dazu beigetragen haben könnte: Denn dort oben über den Wolken …

» … würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein«.

Was im Klartext bedeutet: Wir alle müssen (noch) enger zusammenrücken! Da mein Chef ein Mann der Tat ist, der sich nicht nur verbal dem Lieblingsmotto des einundzwanzigsten Jahrhunderts verschrieben hat, begann er gleich damit, dieses in die Tat umzusetzen. Und das wortwörtlich. Was für mich und alle anderen im Außendienst arbeitenden Kollegen bedeutet, dass wir auf allen Flügen, egal ob Lang- oder Kurzstrecke, erst hinter dem eisernen Vorhang der Business-Class auf den billigen Plätzen der Economy-Class Platz nehmen dürfen: » … aufgrund der finanziell angespannten Zeit, zum wirtschaftlichen Wohle unserer Firma«, so mein Chef. Was unter dem Aspekt »Arbeitsplatzsichernde Maßnahmen« auch einleuchtend und völlig okay ist.

Doch andererseits – wenn ich unsere neue Zwangslage mit den Geschäftsstrategien der Lufthansa vergleiche: Diese lässt, indem sie den Sitzabstand auf ein Minimum verringerte, ihre Kunden und nicht (wie mein Chef) seine Mitarbeiter enger zusammen rücken, damit die Flüge besser ausgelastet und demnach das Unternehmen profitabler arbeitet. Anders hingegen bei uns: Zum Wohle unserer Kunden müssen wir Mitarbeiter – und nicht der Kunde (!) – enger zusammenrücken. Ich sollte vielleicht bei Gelegenheit meinen Chef mal darauf hinweisen.

In seiner letzten Strophe besingt Reinhard Mey jemanden, der in einer Luftaufsichtsbaracke Kaffee kocht, von in Pfützen schwimmendem Benzin, »schillernd wie ein Regenbogen«, und lässt sie mit den Worten ausklingen:

» … Wolken spiegeln sich darin, ich wäre gerne mitgeflogen«.

Eines ist sicher: Wäre Reinhard Mey in der Economy-Class mitgeflogen, hätten ihn andere Sorgen geplagt, als ein Lied von grenzenloser Freiheit über den Wolken zu dichten. Wohl eher eine Ballade mit dem Titel »I’am living in a box« oder »I will survive«, die sinngemäß von eingepferchten Ölsardinen handelt, die trotz nahezu aussichtsloser Lage noch ums Überleben kämpfen«.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, auf welches Maß die Freiheit über den Wolken zusammenschrumpft, bin ich mit einem Zollstock durch die Sitzreihen eines Langstreckenflugzeuges vom Typ Boing 747-400 geschlichen: Angefangen im hintersten Teil, in der von manchen ketzerisch genannten „Holzklasse“. All jene, die sich in der Economy-Class auf eine Reise über den Wolken begeben wollen, sollten sich im Klaren darüber sein, dass sie diese auf einem 47,5 Zentimeter breiten Sitz bewältigen müssen. Was eigentlich ganz okay wäre, wenn nicht schon 79,2 Zentimeter vor einem der nächste Himmelsstürmer kauert, der bei einem maximalen Neigungswinkel seiner Rückenlehne von 23° einem gefährlich nahe kommen kann.

Als ausgesprochene Glückspilze können sich all jene bezeichnen, denen es gelang, einen der sehr begehrten Notausgangsitzplätze zu ergattern. Der Haken dabei ist, dass die Freifläche vor den Sitzen von anderen Passagieren gern als Treffpunkt belagert wird. Entweder, um dort die verspannten Glieder zu strecken, oder aber um mit den aus allen Ecken des Flugzeuges zusammengetrommelten Familienmitgliedern ein ausgedehntes Schwätzchen zu halten. Wogegen im Grunde ja nichts einzuwenden wäre. Dummerweise sind jedoch im Notausgangbereich die Bildschirme für das Bord-Unterhaltungsprogramm auf der den Sitzen gegenüberliegenden Trennwand angebracht. Und ausgerechnet wenn’s so richtig spannend ist, kommt ein halbes Dutzend Mitglieder eines sizilianischen Familienclans, nehmen den Platz zwischen Sitz und Bildschirm in Beschlag, schnattern pausenlos durcheinander, wobei wild mit Händen und Füßen gestikuliert wird, als sei Palermo soeben italienischer Fußballmeister geworden. Ein anderes Mal kommt ein schlaksiger Mann in einer leeren Jeanshose, ausgeleiertem Strickpullover und mit zu allen Seiten hin abstehenden Haaren, stellt sich mit seiner an ein Fragezeichen erinnernden Figur vor den Bildschirm, starrt gedankenverloren durch die Sitzreihen, wozu er seine Hände tief in beide Hosentaschen vergräbt, wo sie alsgleich beginnen, heftigst an der Stelle zu wurschteln, die das Auge des Gesetztes dem Paragraphen »Erregung öffentlicher Ärgernisse« zuordnet.

Doch schnell zurück zu unserer Zollstocktour durch die Sitzreihen: Passagieren mit einem breiteren Hinterteil als 47,5 Zentimeter, einem Gefühl von Platzangst, wenn sich die Rückenlehne des Vordermannes wie ein Sargdeckel nähert, oder mit einem großzügigeren Chef empfiehlt sich die Business-Class: Sitzbreite 58 Zentimeter, wobei der Vordermann auf einer im Winkel von 45° geneigten Rückenlehne ganze 122 Zentimeter weit von einem entfernt liegt. Na, wenn das keine himmlischen Aussichten sind!

Und nun zur Königsklasse der Himmelsstürmer, der First-Class, wo einem eine Beinfreiheit von verschwenderischen 228 Zentimeter gestattet wird, und einer mittels Elektroantrieb bis in die Horizontale fahrenden Sitz-Liegefläche, auf der man wie auf Wolke Sieben seinem Flugziel entgegenschwebt und vor lauter Behaglichkeit davon träumt, hoffentlich nie dort anzukommen.

Mittlerweile war Stille im Abteil von uns Economen eingekehrt. Das Tablett mit den Überbleibseln vom Abendessen mit den leeren Schälchen und zusammengeknüllten Cellophanpapierchen wurde abgeräumt, der Unterhaltungsfilm war schon seit geraumer Zeit zu Ende und auf den Monitoren wechselten stupide die aktuellen Flugdaten mit der Flugroute. Draußen herrschte stockdunkle Nacht: Irgendwo über Russland zwischen Moskau und Ulan Bator, in zehntausend Metern Höhe, auf dem Weg nach Manila

Wie vereinzelte Sterne leuchtete über einigen wenigen Sitzen noch der Schein der Leselampen. Auch ich hatte meine wieder angeknipst, denn bis auf meine eingeschlafenen Beine und meinen steifem Nacken waren all meine anderen Körperteile noch hellwach. Und während ich so in meinem Sitz ausharrte, wobei die zurückgeklappte Rückenlehne meines Vordermannes gegen meine Kniescheiben drückte, sein Hinterkopf fast auf meiner Nase lag und mein schnarchend grunzender Sitznachbar unsere gemeinsame Armlehne für sich alleine beanspruchte, kam mir für einen kurzen Augenblick mein Chef in Gestalt eines (kleinen) Teufels in den Sinn: Kämpferisch ballte er beide Fäuste, wobei er mich mit zusammengebissenen Zähnen anfeuerte: »Durchhalten Junge! Kämpfe, quäle dich, zum Wohle unseres Kunden!«

Da ich die einzigen, uneingeschränkten Bewegungen mit meinen Augen und Händen machen konnte, suchte ich Kurzweil im Lufthansa Bordmagazin. Was gar nicht mal so einfach war. Denn durch die zurückgeklappte Rückenlehne meines Vordermannes musste ich die Zeitschrift ganz dicht vor mein Gesicht schieben – zwischen dem Hinterkopf meines Vordermannes und meiner Nase.

Gleich auf der ersten Seite begrüßte mich mit einem smarten Lächeln der Vorstandsvorsitzende der Lufthansa, Herr Wolfgang Mayrhuber, an Bord eines seiner Flugzeuge und hoffte – nein, er setzte sogar voraus! –, dass ich mich pudelwohl fühlte. Und ich wäre beinahe (aber auch nur beinahe) der Versuchung erlegen, ihm zu glauben, dass er den Gruß noch nicht mal zynisch, sondern von Herzen ehrlich meinte: Wie er da auf dem Foto mit offenem Sakko und krawattenlosem Hemdkragen so locker mit einem angewinkelten Arm an ein weißes Mäuerchen gelehnt stand.
[…]

Über den Wolken, irgendwo zwischen Frankfurt und Manila, im Juni 2006
Stephan Thiemonds©
“Querweltein Unterwegs – Schrauben, Spesen und Chinesen”

Take me home, country roads…

Dass Asiaten ihrer Natur nach hervorragende und überaus aufmerksame Gastgeber sind, ist allgemein bekannt. Und wen es einmal in diesen Teil der Welt verschlagen sollte, wird dies auch unverzüglich am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Um dem Gast – sei es dem Geschäftsreisenden oder dem Besucher – die Zeit seines Aufenthaltes im fremden Land so angenehm wie nur möglich zu machen, wird von der ersten Minute des Treffens an selbst auf seine kleinsten Bewegungen und Eigenheiten geachtet (natürlich in erster Linie mit dem Hintergedanken, die eigenen Ziele – mittels fremder Hilfe – effizient zu erreichen). Es wird sozusagen ein persönlicher Verhaltensfingerabdruck des Gastes erstellt und gespeichert: Wie verhält er sich? Wie reagiert er auf dieses oder jenes? Welche Vorlieben pflegt er, was isst er besonders gerne und was mag er weniger?

Es dauerte eine Weile, bis mir die auf meine Person zugeschnittene Fürsorge auffiel. Während meines ersten beruflichen Aufenthaltes in China fragte mich Raymond, der Juniorchef des Chemieunternehmens, für das ich arbeitete, in einem lockeren Gespräch, welche Musikrichtung ich bevorzugen würde. Da wir gerade mit dem Auto durch die Lande brausten, die am Fenster vorbeiziehenden Bilder mich im Unterbewusstsein an meine zurückliegende Fahrradreise erinnerten und an den Song, den ich ab und an beim Radeln gesungen hatte, sagte ich: John Denvers „Take me home, country roads“ höre ich gerade auf Reisen ab und an ganz gern«. Doch wenn ich bloß geahnt hätte …!

Die Tage meines Aufenthaltes in China vergingen rasch. Doch bereits nach wenigen Wochen kehrte ich zu demselben Kunden zurück.

Der Ausgang Nummer zehn am Ankunftsterminal des Shanghai Pudong Airports war als Treffpunkt vereinbart. Der gleiche Fahrer, der mich schon bei meinem ersten Besuch abgeholt hatte, wartete bereits. Wir luden mein Gepäck in den Kofferraum und stiegen ins Auto. Und just in dem Moment, als er den Schlüssel im Zündschloss drehte und mit dem Motor auch das CD-Radio ansprang, erklangen die unverwechselbaren Gitarrenklänge, zu denen die Stimme John Denvers einsetzte:

»Almost heaven, West Virginia
Take me home, country roads,
to the place, I belong …«.

[Youtube Video: John Denver – Take Me Home, Country Roads (Official Audio)]

Ich war entzückt, ja beinahe zu Tränen gerührt. Zumindest für den Moment. Ob nun vom Flughafen zum Hotel, vom Hotel zur Arbeit, von der Arbeit in die Stadt oder wieder zurück zum Hotel – der Fahrer fuhr und John Denver begleitete uns, sobald ich ins Auto stieg. »Ist das nicht reizend und überaus zuvorkommend«, mögen Sie in Anbetracht solch penibler Aufmerksamkeit vielleicht denken. Gewiss! Zumal es nach zwei, drei Tagen erst richtig begann, »reizend« zu werden.

Denn ab dem vierten John-Denver-Marathon-Tag hatte sich der Song nicht nur bei mir, sondern auch bei dem Fahrer als Ohrwurm eingenistet. Anfangs versuchte er lediglich der Melodie des Songs zu folgen, indem er dazu summte. Doch bereits zwei Tage später stimmte der Fahrer in den Liedtext mit ein: »Kantlii looads, Take mee holm …«.

Nach zwei weiteren Tagen und gefühlsmäßig schier endlos lang dauernden Fahrten in den Fängen eines chinesischen John-Denver-Verschnitts, dessen fürchterlichen Gesangsversuche zu meinem Pech ohne jeglichen Fortschritt blieben, glaubte der »Künstler«, den Text recht gut draufzuhaben. Denn während er sang, warf er immer wieder mal einen schnellen Blick zu mir hinüber auf den Beifahrersitz. Wahrscheinlich um abzuschätzen, was der Fremde aus dem Westen von dieser Nummer hielt. Dabei lächelte er mich zufrieden an und wiegte seinen Kopf im Liedtakt wie eine Mutter hin und her, die ihrem Baby das Liedchen »La, le, lu, nur der Mann im Mond schaut zu …« vorsummt.

Um »China-John« auf seinem musikalischen Höhenflug nicht zu entmutigen und mit dem Wissen, dass auch diese Fahrt zur Arbeit in spätestens fünfundzwanzig Minuten überstanden sein würde, erwiderte ich sein sanftmütiges Lächeln. (Was ich, im Nachhinein betrachtet, besser nicht getan hätte.) Gemeinsam mit ihm wiegte ich wohlwollend einige Male sanft meinen Kopf im Takt der Musik und seines fürchterlichen Gesangs hin und her, bevor ich wieder stur geradeaus auf die Straße schaute. Offenbar fühlte sich dadurch mein Peiniger derart in seiner Kunst bestätigt, dass er mir zum Dank eine noch lautere Zugabe schmetterte – »Kantlii looads, Take mee holm …«.

Darauf, dass ein Bandsalat das Martyrium vorzeitig beenden würde, konnte ich im CD-Zeitalter leider nicht hoffen. Zwar setzte die Musik jedes Mal für einige Augenblicke aus, wenn der Wagen durch ein Schlagloch bretterte, jedoch fanden John Denver und leider auch mein Fahrer immer wieder den Einsatz: »Schlaglöcher gibt’s in China zwar in Hülle und Fülle, jedoch nicht genug, um die verdammte CD aus dem Wechsler zu schleudern«, ging’s mir durch den Kopf, während ich mich meinem Schicksal weiter ergab …

Als nächstes versuchte ich es mit Telepathie. Konzentriert fixierte ich die Motorhaube und wünschte mir dabei ganz fest, dass doch bitte weißer Qualm darunter hervorkriechen möge und wir wegen eines defekten Kühlers nicht weiterfahren könnten. Zwar lägen dann noch knapp zehn Kilometer Fußmarsch vor uns – aber was tut man nicht alles für seinen Seelenfrieden.

Da leider auch der Motor meinem Wunsch nach Erlösung nicht nachkommen wollte, suchte ich nach einer praktikableren Lösung. Vielleicht sollte ich dieses Gedudel einfach mit der Brechstange beenden. Von jetzt auf gleich. Ohne Rücksicht würde ich dem Fahrer durch eine unmissverständliche Gestik zu verstehen geben, dass einem von zu viel Fürsorge kotzübel wird. Doch das würde ihn vielleicht kränken. Und außerdem hätte ich damit meinem eigenen Wunsch, John Denver zu hören, widersprochen, wodurch im schlimmsten Fall meine Glaubhaftigkeit angezweifelt worden wäre. Sie mögen nun denken das sei kleinkariert, aber genau so denken Asiaten.

Wäre John Denver nicht bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, würde er wahrscheinlich freiwillig herausspringen, um der Qual zu entkommen, zweimal täglich die chinesische Coverversion seines berühmten Songs gnadenlos auf die Ohren zu bekommen. Springen! Natürlich, das ist die Lösung. Einfach Tür auf und raus … Soll der Fahrer doch sehen, wie er seinem Chef klarmacht, warum ihm sein Fahrgast auf offener Landstraße abhandengekommen ist!

Nach rund vier Minuten war der Spuk vorbei und die letzten Gitarrenklänge verstummt. Doch zu meinem Pech glaubten meine asiatischen Freunde offensichtlich, mit John Denver meiner favorisierten Musikrichtung auf die Spur gekommen zu sein. Denn was folgte, waren musikalische Sehnsuchtsmelodie-Knaller wie »Five hundred miles away from home«, »California Blue« und »If you’re going to San Francisco«. Zum Glück ist unser Heino in China weitestgehend unbekannt. Denn sonst wäre ich höchstwahrscheinlich nicht mit einem VW Passat, sondern »Hoch auf dem gelben Wagen« durch die »Hohen Tannen« und mit einem »La Montanara« pfeifendem Chinesen Tag für Tag zur Arbeit gefahren.

 

Kunshan, China, im Juli 2005
Stephan Thiemonds©
“Querweltein Unterwegs – Schrauben, Spesen und Chinesen”

Irren ist menschlich

Alleine die Tatsache, dass die schwedische Hauptstadt 1998 von der Europäischen Union zur Kulturhauptstadt Europas ernannt wurde, macht deutlich, wie viel Stockholm seinen Besuchern zu bieten hat. Dummerweise stand mir aber nur ein halber Tag zur freien Verfügung. Ich musste Prioritäten setzen. Was nicht ganz einfach war.

   Wie ich Ihnen bereits erzählt habe, entschloss ich mich dafür, mir (neben den hübschen Menschen) die Gambla stan, die Altstadt anzusehen. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass ich das Vasa-Museum bis zu meinem nächsten Stockholm-Besuch aufschieben musste. Leider.

   Nicht alleine durch die Tatsache, dass es sich bei diesem um ein weltberühmtes Museum handelt, wurde mein Interesse geweckt. Vor allem reizte es mich, weil dieses Museum eine spannende Geschichte erzählt, die in der Hauptsache von einem der größten Missgeschicke Schwedens berichtet und weil es auf tragische Weise deutlich macht, dass es vom Erfolg bis zum Scheitern manchmal nur, Zack, ein Augenblick ist. Vor allem aber zeigt sie – und das ist das Aufregendste – wie sich eine nationale Niederlage zum (Welt-)Erfolg umwandeln lässt. Und gerade das macht dieses Museum so ungemein sympathisch, weil seine Geschichte wie so vieles im Leben verläuft: Am Anfang stand eine große Idee. Schnell folgte deren Umsetzung. Dann der große Augenblick. Doch das Vorhaben scheiterte. Der Misserfolg musste verarbeitet werden. Viele, viele Jahre später dann, endlich, eine neue Idee … die nicht wie Phönix aus der Asche, sondern (in diesem Fall) wie Neptun aus dem Wasser stieg.

   »Niemals aufgeben«, lautete mein persönliche Überschrift von der Geschichte des Vasa-Museums, die im Jahre 1625 ihren Anfang nahm …

   Damals kam dem schwedischen König Gustav II. Adolf die kühne Idee, das größte und stärkste Kriegsschiff der schwedischen Marine zu bauen. So weit so gut. Nachdem mehr als 1000 Eichen als Baumaterial gefällt waren, wurde unter der Leitung des niederländischen Schiffsbauers Henrik Hybertsson im Hafen von Stockholm mit dem Bau der Vasa begonnen. Insgesamt werkelten 400 Mann an dem Projekt: Zimmermänner, Bauschreiner, Bildhauer, Maler, Glaser, Segelmacher, Schmiede und zahlreiche andere Handwerker.

   Nach ungefähr zwei Jahren Bauzeit maß das 1200 Tonnen schwere Schiff vom Masttopp bis zum Kiel 52 Meter, vom Bug bis zum Heck 69 Meter und besaß drei Masten, die Platz für zehn Segel boten. Der einzige (Enter-)Haken war, dass der König unbedingt eine ungewöhnlich hohe Anzahl Kanonen an Bord haben wollte, um seinen verfeindeten Bruder in Polen zu beschießen (weil dieser katholisch war). Vierundsechzig Kanonen sollten es sein – so viele, wie kein anderes Schiff der schwedischen Krone. Und dass, obwohl man im 17. Jahrhundert lediglich auf so genannte Abmessungstabellen zurückgreifen konnte, die sich in der Vergangenheit bewährt hatten. Das einzige was man mit Sicherheit wusste: Die Konstrukteure waren mit ihrer Aufgabe überfordert, mussten aber – vielleicht kommt Ihnen diese Stelle bekannt vor – auf Drängen ihres Chefs eine Lösung finden. Kurzfristig wurden die Pläne so Pi mal Daumen geändert und die Vasa mit einem hohen Aufbau und zwei eingeschlossenen Kanonendecks versehen. Um Oberlast zu vermeiden und das Schiff später stabil im Wasser zu halten, wurde der Kiel mit Ballaststeinen gefüllt. Wie viele ausreichen würden, wusste niemand.

Nachdem der letzte Handschlag getan und die Putzkolonne Grundreinigung gehalten hatte, war die Vasa eines der mächtigsten und auch prächtigsten Schiffe, die je gebaut wurden.

   Am 10. August des Jahres 1628 war der große Augenblick gekommen. Alle Vorbereitungen für den Stapellauf waren getroffen. Das bis dato größte Ereignis in Schwedens Geschichte konnte stattfinden. Alles schien perfekt. Die Sonne strahlte mit dem König um die Wette, die uniformierten Admiräle blähten stolz ihre Brust, während sich die Schiffskonstrukteure auffallend bedächtig zurückhielten. Und während das Volk Fähnchen schwenkend jubelte, schleuderte die lächelnde Königin eine Sektflasche gegen den Bug der wahr gewordenen Idee ihres überglücklichen Gatten und taufte sie, entsprechend ihres Adelsgeschlechts, auf den Namen Vasa. Die Luft war angereichert mit Seefahrerstolz. Der Atem der Geschichte duftete nach Freiheit und Gischt. Und während die Blaskapelle einen Tusch spielte und der Seemannschor sang, wurden auf einen Wink vom König die letzten Halteleinen gekappt – worauf, von Salutschüssen begleitet, das gewaltige, hoch aufragende Schiff von seinem Trockendock aus rumpelnd über quer liegende Baumstämme in die Fluten schoss. Mit enormem Schwung glitt die schwimmende Festung durch den Hafen (bis sie quasi »ausrollte«). Und in dem Moment als der Kapitän den Befehl gab: »Männer, in die Trossen. Hisst die Segel!«, kippte das verdammte Ding einfach um! Wassermassen schossen durch die geöffneten Kanonenklappen. Die Vasa begann zu sinken –! Wir können wohl stark davon ausgehen, dass dieser Moment wohl bis dato einer der größten, wenn nicht sogar der Größte in der Seefahrtgeschichte war, bei dem man in die meisten verdutzten Gesichter und in genauso viele offene Münder blicken konnte, wobei in den hinteren Reihen so geistreiche Bemerkungen fielen wie: »Ha!, ich hab’s von vornherein gewusst, dass konnte nicht klappen. Aber auf mich hat ja mal wieder niemand gehört. Wenn ich zu sagen gehabt hätte, dann … bla, bla, bla«.

   Nach noch nicht einmal einer Seemeile war die Jungfernfahrt der Vasa – die gleichzeitig auch ihre letzte Fahrt war – zu Ende. Tausende Zeitzeugen standen am Pier und starrten apathisch auf die Vasa, wie sie die blubbernde See in sich hineinsaugte und sich schließlich das nasse Grab im Hafen von Stockholm schloss.

   Der Erste, der auf den Schock reagieren konnte, war der König. In einem heftigen Tobsuchtsanfall stampfte er mit hochrotem Kopf und mit einer Halsschlagader so dick wie ein Gartenschlauch, mit beiden Beinen auf dem Steg herum, wobei er cholerisch nach den Schuldigen, nach den Admirälen, den Schiffskonstrukteuren – nach quasi allen am Bau Beteiligten schrie. Diese jedoch ignorierten seine Schreie, schauten sich nur kurz an, räusperten sich, hoben unschuldig die Schultern und gingen ein Liedchen pfeifend nach Hause. Warum auch nicht: Irren ist schließlich menschlich. Oder steckte vielleicht eine bewusste Cleverness dahinter?

   Nachdem man in den folgenden Jahren mehrfach vergeblich versucht hatte, dass Schiff zu bergen entschied man sich für die einfachste Lösung des Problems: Man ignorierte es. (Was in dem Fall nicht allzu schwer gewesen sein konnte.) Aus den Augen aus dem Sinn.

   Die folgenden dreihundert Jahre geschah so gut wie nichts. Die Zeit musste die tiefe Wunde, die Schmach eines im Stolz gekränkten Volkes, heilen. Und die Zeit musste einen Menschen hervorbringen, der den Mut aufbringen würde, den versunkenen Nationalstolz mit einer neuen Idee wieder emporsteigen zu lassen, um diesen so zu neuem, wenn auch verspätetem Ruhm zu führen.

   Anders Franzén ist der Name des Helden, den von Kindheit an die Wrackteile unweit seines Stockholmer Elternhauses faszinierten. Mit den Jahren wurde dem privaten Wrackforscher mehr und mehr die große Bedeutung der Tatsache bewusst, dass der Schiffsbohrwurm (Teredo navalis), der gewöhnlich Holzwracks in Salzgewässern auffrisst, sich nicht im Brackwasser der Ostsee, also nicht um Stockholm, aufhält. Anfang der 1950er Jahre machte er sich auf die Suche nach der Vasa. Und tatsächlich, 1956 fand er das Wrack, dass fünf Jahre später, am 24. April 1961 aus dem Wasser gezogen wurde. Und mit ihm noch 14.000 lose Holzobjekte. Die Konservierung und das gigantische Puzzlespiel der Restaurierung des schwimmenden Palastes konnte beginnen.

   Neununddreißig weitere Jahre sollten vergehen, bis dass 1990 König Carl XVI. Gustav erstmals die Vasa wieder der Öffentlichkeit präsentierte. Das Flaggschiff der schwedischen Krone – das ungewollt zur Zeitmaschine wurde – hatte seinen Platz im eigens gebauten Museum gefunden. Und allen, die daran gearbeitet hatten, wurde plötzlich klar: Der Untergang der Vasa glich einem Einfrieren der Zeit: Was 1961 geborgen wurde und nunmehr von jedermann besichtigt werden kann, ist ein unberührtes Überbleibsel aus dem 17. Jahrhundert. Jedes geborgene Detail ist ein Zeugnis der Vergangenheit: Die Skelette und die persönlichen Gegenstände der Besatzungsmitglieder ebenso wie das Schiff und seine Ausstattung, das mit 95% erhaltener Originalteile, Verzierungen und hunderten von geschnitzten Skulpturen ein einzigartiger Kunstschatz darstellt.

   Denkt man Mal in einer stillen Minute über die ganze Geschichte nach – kurios ist sie schon. Damals, als sich herumgesprochen hatte, was im Hafen von Stockholm geschehen ist, lachte die Seefahrerwelt über die sich schämenden Schweden. Inzwischen ist das Lachen verstummt, und Schweden blickt mit Stolz und die Seefahrerwelt mit Neid auf die Vasa, weil es das einzige erhaltene Segelschiff aus dem 17. Jahrhundert ist. Was sie mit Sicherheit nicht wäre, wenn sie mit ihren 64 Kanonen auf ihren Reisen über die Meere für Unheil gesorgt hätte. So nun kommt die Welt gerne und in Frieden zu ihr – ins meist besuchte Museum Skandinaviens. Bei allem Respekt vor den Opfern sei mir gestattet zu sagen: Ein Hoch auf die (cleveren) Konstrukteure, die offensichtlich weit ihrer Zeit voraus dachten.

   Oh, verzeihen Sie mir bitte, wenn sich die Geschichte im Detail nicht ganz so zugetragen haben sollte. Aber Sie wissen ja, leider war ich noch nicht im Museum und irren ist menschlich.

Stockholm, Schweden im November 2007
Stephan Thiemonds©
“Querweltein Unterwegs – Schrauben, Spesen und Chinesen”